Peter Paul Schweitzer
Unter Sirenengeheul in die Bunker
I
Schlimm kamen sie uns damals eigentlich nicht vor, unsere Kinder- und Jugendjahre in den Vierzigern, vielmehr abwechslungsreich und äußerst spannend. Pfingsten 1944 waren wir bei schönstem Wetter an der Lahn gewandert, hatten Arnstein besucht, und als wir gegen Abend in Obernhof zum Bahnhof kamen, ließ der Zug auf sich warten. Die Leute im Wartesaal waren zunächst fröhlich, dann, als sich die Ankunft des Zuges immer mehr verzögerte, wurden die ersten Wartenden unruhig, manche gar ärgerlich und schließlich, als draußen schon ein kühler Abendwind aufkam, war nicht nur unsere Mutter besorgt: „Es wird doch nicht ein Unglück geschehen sein?“
Nein, natürlich nicht. Der Zug wurde aufgerufen, an der Tür knipste ein Beamter die Fahrkarten, und die Fahrgäste drängten auf den Bahnsteig. Da hörte man den Zug durch den Tunnel kommen, das Stampfen der Dampflok, ihren scharfen Pfiff, ehe sie auf die Brücke rollte, und endlich fuhr ein langer Zug in den kleinen Bahnhof. Bremsen kreischten. Türen flogen auf. Wenige Reisende stiegen aus, viele wollten hinein. Die Schaffner liefen aufgeregt hin und her: „Beeilung! - Beeilung!“ Schon flogen die ersten Türen knallend wieder zu. Dann auch die letzten. Die Lok schnaufte, der Stationsvorsteher mit seiner roten Mütze pfiff und hob die rotweiße Kelle. Mein Bruder kletterte auf die Holzbank und rief begeistert: „Mama, es geht los! Wir fahren schon “.
Draußen huschten eben Obernhofs letzte Häuser vorbei, da stand schon ein Schaffner bei uns und verlangte die Fahrkarten. Als Mutter sie ihm reichte, blickte er kurz darauf und sagte: „Also, gute Frau, da wird nichts draus. Nach Limburg fährt der Zug heute nicht mehr, in Diez ist Schluss“. Sagte das und reichte ihr die Fahrkarten zurück und war schon aus dem Abteil verschwunden, ohne eine auch nur einzige Antwort auf Mutters besorgte Fragen „Ja, wieso das denn ? Wieso denn? Wie sollen wir denn nach Hause kommen?“
Das konnte ja munter werden.
Später drängte ich mich neben meinem Bruder ans Fenster, das wir mit vereinten Kräften ein wenig herunterzogen. Die Erwachsenen protestierten; den scharfen Rauch der Lok und die kühle Abendluft mochten sie nicht leiden. Da wir soeben an Balduinsteins Bahnhof heranfuhren, ließen sie uns jedoch gewähren, vermutlich, weil sie hofften, auf diesem Wege etwas darüber zu erfahren, weshalb die Fahrt in Diez ihr Ende haben sollte. Aber dort waren nur wenige Leute auf dem Bahnsteig, und diese wenigen hatten etwas anderes zu tun, als unsere Neugier zu befriedigen. Doch nun kam der Schaffner wieder ins Abteil, und alle fragten ihn durcheinander und gleichzeitig, aber schließlich ließ er sich die knappe Auskunft abnötigen: „Schwerer Bombenangriff auf Limburg“.
Mehr erfuhren wir zunächst nicht, vor allem nichts Näheres, welche Teile der Stadt es getroffen habe? Vielleicht unsere Gegend? Größere Schäden, gewiss? Und ob denn Menschen zu Schaden kamen? In Diez, als alle aussteigen mussten, konnte man uns auch keine Auskunft geben, oder man wollte es offenbar nicht, im Hinblick auf uns Kinder, die wir unsere Ohren weit aufsperrten, für die die ganze Wahrheit aber nicht bestimmt war.
So mussten wir uns vom Diezer Bahnhof aus auf den Heimweg machen. Eine unfreiwillige Abendwanderung erwartete uns, und es war klar, dass sie als Nachtwanderung enden würde; unklar war allerdings, was wir zu Hause vorfinden würden. Hatte es die Südstadt getroffen, das Galmerviertel vielleicht gar? Es dämmerte schon; Wege und Straßen waren inzwischen wie leergefegt. Wen hätten wir fragen können?
Als wir am Diezer Zuchthaus vorbeigingen, das still und drohend auf uns herabschaute, beschleunigten wir unwillkürlich unsere Schritte, redeten ein bisschen lauter, ja, Mutter sang leise, weil sie unsere gedrückte Stimmung fühlte: “Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ...“ Wir sangen leise mit, obwohl es mit unserer Lust nicht weit her war. Unerwartet tauchte vor uns ein Trupp Männer auf, der als Kolonne auf uns zukam. Unsere Sangeslust blieb uns im Halse stecken.. Wer waren die Männer? Wohin wollten sie? Soldaten waren es nicht, dazu fehlten ihnen Gewehre und Helme, und sie trotteten auch mehr als dass sie im Gleichschritt marschierten.
„ Es sind Kriegsgefangene“, flüsterte die Mutter, so leise, dass nur wir es verstanden, „sie kommen sicher von der Arbeit und wollen ins Freiendiezer Gefangenlager“. An der Auskunft hatte ich so meine Zweifel, es war doch Pfingsten, wo sollten sie da gearbeitet haben? Doch tags darauf verstanden wir, woher sie kamen und das zu so später Stunde.
Unser Weg führte uns endlos, wie wir Kinder glaubten, an den Bahnlinien entlang, bis wir von ihnen nach rechts abbiegen konnten und dann noch einmal endlos lange geradeaus auf den dunklen Horizont zu gingen. Mir kam der Weg bekannt vor, aber meinem drei Jahre jüngeren Bruder erschien er ganz fremd und und führte ihn nirgends hin, so dass er müde wurde und zu quengeln begann, zunehmend bummelte und bald an Mutters, bald an meiner Hand abgeschleppt werden musste. Doch dann tauchten die langen, weißen Mauerwände der Villa Fachinger aus dem Dunkel vor uns auf, und von da an gingen wir durch Feldwege, die zuletzt schon zu unserem Räuberrevier gehörten, an die Südseite des Galmerviertels heran, wo wir unser Haus und Heim unversehrt antrafen und hundsmüde in unsere Betten sanken.
II
Als uns die Mutter am kommenden Morgen aus den Federn scheuchte, wartete ein Tag voller Entsetzen auf uns. Nach dem Frühstück schickte sie mich zum Einholen zum Bäcker und um Lebensmittel, und ich machte mich halb bummelnd, halb im Dauerlauf auf den Weg, zur Bäckerei Ost, zuerst die Galmerstraße hinab, an die Einmündung in die Blumenröder Straße. Doch das fröhliche Rundschleudern des Einkaufsnetzes verging mir bald und meine Schritte wurden kleiner und verzögerten sich, je mehr ich mich meinem Ziel näherte. Hier roch es ganz ungewöhnlich und lag zwar unsichtbar, doch im Hals kratzend Staub in der Luft, so dass ich husten musste. Dann sah ich, dass die Straße abgesperrt war, und Mauerstücke und Trümmer ein Weitergehen unmöglich machten . Also lief ich den Berg zur Egenolf-Straße hinauf, um den Häuserblock herum und wollte die Blumenröder Straße runter zur Bäckerei Ost. Aber auch hier wurde ich durch eine Absperrung am Weiterkommen gehindert.
Nun gibt es keine Absperrung, die einen Elfjährigen wirklich zurückhalten könnte. Rasch drübergeklettert wollte ich und nach links zum Bäckerladen. Da sah ich, was geschehen war: Das erste Haus links in der Galmerstraße war von einer Bombe getroffen worden; halb war es zertrümmert, halb stand es mit aufgerissenen Zimmern und in die Luft starrenden Holzbalken noch aufrecht. Über die Trümmer lagen zerrissene Kleidungsstücke zerstreut und zwischen den Backsteinen schauten Möbelreste heraus.
Lange konnte ich nicht hinsehen, Trümmerstaub und -geruch vertrieben meine Neugier und schnell lief ich in den Laden. Das Kommissbrot war rasch ins Netzt verpackt, nur noch zum Bezahlen musste ich Brotmärkchen und das kleine 50-Pfennig-Stück aus der Tasche kramen. Darüber kommt eine Frau in den Laden, die Frau Ost mit tränenerstickter Stimme und den Worten begrüßt: „Ist das nicht schrecklich, was den Borbonus und dem jungen Toni passiert ist!“
So erfuhr ich, dass Toni, mein Schul- und Spielkamerad, am Tag zuvor im Luftschutzkeller des zerstörten Hauses verschüttet und erst nach langer Suche tot aufgefunden worden war. Erschrocken und verwirrt eilte ich nach Hause und heulte mich bei der Mutter aus.
Natürlich versuchten die Erwachsenen, unsere Ohren vor Schilderungen des wahren Ausmaßes und besonders der tragischen Details dieses nun schon zweiten Bombenangriffes zu schonen. Aber so sehr sie zu Getuschel und vielsagenden Blicken als Verständigungsmitteln Zuflucht nahmen, wir spitzten unsere Ohren umso mehr. So erfuhren wir noch am selben Tag vom Schicksal der Frau Röder, der Mutter dreier etwas älterer Kinder als wir, die im gleichfalls getroffenen Nachbarhaus meines Schulkameraden ganz schrecklich getroffen wurde: Ihr durchbohrte die Absplitterung eines Holzbalkens Brust und Lunge. Trotz dieser schweren Verletzung schafften es Beherzte aus der Nachbarschaft, die Verletzte aus den Haustrümmern lebend zu bergen und ins Hilfskrankenhaus bei den Pallottinern zu bringen. Dort gelang es dem jungen Chirurgen Dr. Bremer in einer äußerst schwierigen und gewagten Operation den Splitter zu entfernen und die Verletzung so sorgfältig zu reinigen, dass Frau Röder nach einem längeren Heilungsprozess noch viele Jahre ihrer Familie vorstehen konnte.
III
Mit dem Pfingstausflug nach Arnstein, mit der nächtlichen Heimkehr nach Limburg und den Erschütterungen des folgenden Tages durchschritten wir das Tor in einer großen Mauer, hinter der uns eine andere Welt erwartete. Plötzlich war alles nicht nur interessant und spannend und lustig oder öde – wir selbst fühlten von da an, dass das, was uns vorher so interessant vorkam, nun mit uns und an uns geschah. Es konnte auch uns treffen, ja wirklich, alles, und sogar das Schlimmste bedrohte auch uns.
Damals ging mir auf, dass Krieg kein Spiel um die Wette war, wie wir es auf dem Schulhofboden mit unseren Taschenmessern spielten: 'Deutschland erklärt den Krieg gegen Engel-land …' Dass die Bombensplitter, die beim ersten Luftangriff auf Limburg dem Vater der Frau Emmerich aus unserem Haus den Leib aufgerissen und die Därme des alten Polizisten auf die Eisenbahnstraße geschleudert hatten, dass diese scharfzahnigen Stahlstücke sehr wohl auch uns und die Unsrigen zersäbeln konnten.
Mutter ängstigte sich freilich noch mehr als wir. Wenn es fortan Fliegeralarm gab, ging sie mit uns nicht mehr in den Luftschutzkeller unseres dreieinhalb stöckigen Hauses, sondern nahm uns bei der Hand und lief mit uns in den nahen Eduard-Horn-Park, wo wir unter einer kleinen Fußgängerbrücke Schutz suchten. Zwischen den Bäumen stellte sie kein Ziel für einen Bombenabwurf dar, und würde uns notfalls sogar vor Herabfallendem schützen.
Sie besprach das offen mit uns, und wir stimmten ihr zu. Bestärkt wurden wir in diesem makaberen Kalkül schon beim ersten folgenden Fliegeralarm, denn kaum hatten wir uns auf unsere Rucksäckchen niedergelassen, gesellte sich ein Junge zu uns und nahm auch dort Platz. Mein Bruder und ich waren überrascht, denn wir hatten ihn noch nie gesehen, und meinten doch, alle uns Gleichaltrigen in der Gegend zu kennen.
Der Junge sprach nur gebrochen Deutsch; dennoch fanden wir bald heraus, dass er mit seiner Mutter aus Russland hierher gebracht worden war, und seine Mutter als Zwangs arbeiterin in der großen Ökonomie der Pallottiner arbeiten musste. Er nannte sich Iwan und hatte, wenn die Bomber über uns hinweg brummten und dröhnten, die gleiche Angst wie wir. Und da fortan Fliegeralarm zum alltäglichen Ereignis wurde, ja an manchen Tagen sogar mehrmals die Menschen aufscheuchte, trafen wir immer öfter mit ihm unter der kleinen Betonbrücke im Eduard-Horn-Park zusammen. Und da nun die Entwarnung stundenlang auf sich warten ließ, packte unsere Mutter belegte Brote in unsere kleinen Rucksäcke und nahm in einer Thermoskanne etwas Heißes zum Trinken mit, für uns und Iwan natürlich auch. So entwickelte sich alarmbedingt eine Art nahrhafter Spielfreundschaft zwischen uns, bis eines Tages Iwan nicht mehr kam und für immer ausblieb. Wir rätselten warum, erfuhren aber vorerst nichts.
Als Messdiener in der Pallottinerkirche, die zugleich unsere Pfarrkirche war, wusste ich sehr wohl, dass die Patres und Brüder von der Gestapo scharf überwacht wurden, manche von ihnen damals in Haft waren, und an der Druckerei sah ich die staatspolizeilichen Siegel. Wir beobachteten mit Furcht diese Gestapomänner, die nicht nur die Villa Scheid neben dem Klostergelände beschlagnahmt, sondern sogar in einem Flügel des Klosters ihre Hauptdienststelle eingerichtet hatten. Am Garten dieser Villa entlang führte aber der Weg zum Eduard-Horm-Park, den Iwan zwischen der Ökonomie und unserem Alarmversteck lief. Auch wir mussten ein Stück Weges an diesem Garten entlang, und nahmen, um jedes Aufsehen zu vermeiden, wenn das Wetter es zuließ eine Abkürzung über Feldwege, denn eigentlich hätten wir statt unserer privaten Bombenflucht einen öffentlichen Schutzraum aufsuchen müssen.
Später, wir waren indes längst zu echten Bunkerwanzen in einem der auch offiziell dazu eingerichteten Schutzräume in einem alten Bergwerksstollen avanciert, fragte ich Bruder Hamm, der vom Kloster für uns Messdiener zuständig war, was eigentlich aus Iwan geworden sei; dieser aber hielt nur seinen Zeigefinger vor den Mund und schüttelte seinen Kopf. Und meine Mutter, als ich daheim davon sprechen wollte, wies mich mit scharfen Worten zurecht, meine Neugier und meinem Vorwitz gefälligst zu zügeln und daran zu denken, dass sich schließlich Deutschland und Russland im Krieg befänden, und deshalb keiner wissen müsse, dass Iwan zu uns unter die Brücke gekommen sei.
Mein Bruder und ich aber, wir erinnerten uns noch lange nach dem Krieg an Iwan und sprachen von ihm, bis wir Jahrzehnte später von einer zeitgeschichtlichen Untersuchung über das Schicksal der im Krieg in Limburg in der Ökonomie der Pallottiner tätigen Zwangsarbeiter/innen erfuhren.
Danach waren gegen Kriegsende für den Betrieb der Landwirtschaft und des im Kloster eingerichteten Zivilkrankenhauses hier internierte französische und russische Kriegsgefangene und auch verschleppte Arbeiter tätig, darunter auch Familien mit Kindern. Die erhaltenen Akten erwähnen in diesem Zusammenhang im Sommer 1944 eine Familie aus Lettland, zu der unser Iwan gehört haben könnte, schweigen jedoch über deren weiteren Verbleib und Schicksal.
IV
Immerzu verfolgten wir im Radio den „Jupp“. So nannten wir den offiziellen Vorwarndienst nach seinem Sendezeichen. Jupp .....Jupp.....Jupp. Solange der Jupp juppte, war alles in Ordnung, und das Leben konnte seinen gewohnten Lauf nehmen. Sobald jedoch das Sendezeichen verstummte, blickte jeder zum Radio hin, und einige Sekunden später begann mit „Achtung! Achtung!“ eine Luftlagemeldung, die feindliche Bomberverbände im Anflug auf bestimmte Gebiete ankündigte und damit die in deren Flugrichtung vorausliegenden Städte zunächst vorwarnte und bald darauf ihren vermutlichen Zielen Vollalarm verkündete. Dann heulten mit entsprechenden Zeichen die Sirenen ihre schauerliche Musik den Menschen in die Ohren und allgemeine Angst in die Herzen.
Es suchte jedermann, der konnte, den nächstliegenden Schutzraum oder besser noch einen der sichereren Bunker auf, und das möglichst rasch, denn nicht selten hatten kaum die Sirenen geheult, erfüllte bereits Flugzeuggebrumm die Luft.
Einmal saß ich beim Friseur Weißgerber im Schlenkert auf dem Stuhl, den weißen Kittel umgewickelt, und der Friseur hatte eben seine Kunst auf meiner rechten Kopfhälfte beendet und wollte zur anderen wechseln, als die Sirene Vollalarm gab. Sofort legte der Friseur die Scher beiseite und rannte, alle und alles hinter sich lassend, inden Luftschutzkeller. Den kannte ich nicht, und sein dunkler Flur und Keller machten mir mehr Angst als alle Sirenen und Bomber.
Also rannte ich aus dem Haus, an der Scheid’schen Fabrik vorbei zur Frankfurter Straße und wollte in den Luftschutzstollen an Busche Weiher, den wir inzwischen zu unserem Bunkerasyl erwählt hatten. Dorthin liefen auch die Mutter und auch mein Bruder, wann immer wir konnten.
So sehr weit war der Weg dorthin nicht, und es herrschte noch allgemeine Stille, sodass ich mir, als mir beim Laufen die Puste ausging, beruhigend sagte, ich könne auch gemütlicher gehen, der Bunker liefe mir nicht weg. Und so ging ich über die Kreuzung zur Frankfurter und dann ein Stück in den Weg zum Weiher hinab und den Weg abkürzend über eine kleine Gartentreppe zum letzten der beiden Häuser vor dem Weiher hinunter.
Auf der Treppe traf mich dann an der Ferse des rechten Fußes etwas Hartes, zunächst kaum schmerzhaft, aber ich erschrak und hockte und bückte mich zwischen die Obststräucher, als auch schon ratternd und knatternd ein aus allen Rohren feuernder Tiefflieger über mich wegbrauste, der offenbar einen Zug auf der naheliegenden Eisenbahnlinie im Visier hatte.
So schnell wie gekommen war der Spuk verschwunden; ich rappelte mich auf, sah neben der Treppe die Geschosshülse eines Überschweren Maschinengewehrs auf der Gartenerde liegen, und wusste nun, was mich am Fuß getroffen hatte. Leicht hinkend, aber erleichtert lief ich die letzten Schritte zum Bunker .
Natürlich freuten sich, als ich bei ihnen ankam, meine Mutter und mein Bruder, die sich schon Sorgen um mich gemacht hatten, fingen dann aber an, sich über mich lustig zu machen, der ich ihnen noch gar nicht erzählen konnte, welch schrecklicher Gefahr ich glücklich entkommen war: „Dich hat’s aber auf der rechten Seite ganz schön erwischt“, spottete mein Bruder; und erst das erinnerte mich daran, dass mein Kopf halbgeschoren und gar nicht zum Lachen war.
V
Die Bunkerzeit war weit abenteuerlicher, als man sie sich heute vorstellen kann.
Man stelle sich einen mannshohen und bestenfalls zwei Meter breiten Bergwerksstollen aus dem 18. Jahrhundert mit feuchten Wänden und schlüpfrig nassem Boden vor, in dem zum Teil beiderseits Bänke und Stühle standen, so dass man mit dem nötigen Handgepäck zwischen ihnen, zumal wenn die Randplätze besetzt waren, nur mit Mühe durchkam. Solange der Hauptstrom in einer Richtung anhielt, hinein bei Alarm, hinaus bei Entwarnung, ging es halbwegs unproblematisch zu. Schwierig, fast unlösbar konnte die Situation werden, wenn jemand gegen den Strom gehen wollte oder gar musste. Zum Glück gab es im Stollen in gewissen Abständen rechteckig ausgehauene Ausweichstellen, mit deren Hilfe sich solche komplizierten Situationen lösen ließen - solange alle Ruhe und Humor bewahrten.
Der Stollen am Busche Weiher hatte keine Toilette - als solche diente vor dem Eingang den schmalen Bergweg aufwärts eine Reihe hoher Bäume, die so genannte Kaktus-Allee. Der Stollen war schwach elektrisch beleuchtet, die Allee nur bei Mondenschein.
Notausgänge waren zweie noch aus den Zeiten vorhanden, als man hier Erz förderte. Wo wir immer saßen, war eine kleine Erweiterung in einem Seitenstollen, der zu einem dieser Ausgänge führte. Da der Rettungsausgang zugleich der Luftzufuhr diente, waren unsere Plätze immer zugig und etwas kühler als der übrige Stollen, aber wir hattenfrische Luft, und das trug sicher zu unserem Wohlergehen bei. Dass außer uns nur wenige Leute in dieser Ausbuchtung ihre Stammplätze hatten, hing damit zusammen, dass hier kein fester Boden unter unseren Füßen war, sondern Balken und Bohlen, die einen einen einstigen Förderschacht in unbekannte Tiefen hinab abdeckten. Dass hier jeder Schritt einen dumpf dröhnenden Ton hervorrief, bewahrte uns vor der sonst im Stollen herrschenden drangvollen Enge.
Ich weiß nicht mehr, wie oft wir dort unsere Zuflucht nahmen, wie häufig wir tags, wie oft wir nachts dort saßen; jedenfalls wurde es immer häufiger, je mehr sich das Jahr 1944 seinem Ende näherte. Inzwischen war es unserer Mutter gelungen, in einem der beiden Häuser vor dem Stollen ein Zimmer samt Bett zu mieten, das uns mehr aus Barmher-zigkeit als aus finanziellen Gründen überlassen wurde. Egal, abends zogen wir dort ein, oft genug nur für eine oder zwei Stunden, und landeten kurz darauf schlaftrunken, an einem Bein mit einem Schuh und am anderen mit einem Strumpf bekleidet im Stollen, wo wir selig weiter schliefen, während unsere Mutter vor Angst um uns kein Auge schloss.
Die Periode in diesem Stollen endete mit einem tragischen Ereignis, wie keiner erwartete: Bei einem nicht angekündigten Tieffliegeralarm war jeder, der konnte, in den Stollen gerannt, in dem es folglich zu Gedränge und unschönen Szenen kam. Dem wollte ein junger Luftwaffenoffizier, nur zwei Tage auf Urlaub in Limburg, entfliehen, und kam unzufrieden schimpfend in unseren Teil des Stollens, herrschte uns an, ob er hier zum Notausgang komme. Als Mutter ihm sagte, der sei nur für Notfälle gedacht, fuhr er ihr über den Mund und stürmte davon.
Der Notausgang stieg eng und steil nach oben, das hatten wir Kinder längst ausprobiert, und führte oben durch einen betongeschützten Ausstieg ins Freie. Den stieg der junge Mann also hinauf - und wurde gleich am Ausstieg getötet, als ein Tiefflieger von Flakgeschossen getroffen seine Bombenlast am Hang des Greifenberges entlud.
VI
Nach dem Vorfall in unserer nächster Nähe betraten wir diesen Stollen nicht mehr, sondern flüchteten uns in einen moderneren Bunker, den die kriegswichtige Fabrik Scheid für ihre Zwecke in einen dem alten Stollen naheliegenden Felsen hatte sprengen lassen, um ihre Produktionen dorthin gesichert zu verlagern. Ein leitender Ingenieur dieser Firma namens Schramm, selbst Limburger, hatte erreicht, dass ein für die beabsichtigten Zwecke nicht benötigter Teil dieses hohen, geräumigen und vor allem trockenen Felsenraumes der Bevölkerung als Schutzraum freigegeben wurde, nachdem man seinen viel zu großen Zugang durch eine massive Mauer gegen Bomben und Beschuss abgesichert hatte.
Überhaupt gab es für die Zivilbevölkerung in Limburg eine ganze Reihe Räume, in denen man vor den Schrecken des Bombenkrieges einigermaßen sicher war. In den Domfelsen hatte man von der Lahnseite her einen Stollen getrieben, im Eisenbahn-ausbesserungswerk einen hohen Bunkerturm errichtet, und es gab zudem noch viele mehr oder weniger gut abgesicherte Luftschutzkeller in der Stadt. Selbst weiter abgelegen vom Stadtmittelpunkt hatte die Brauerei Binding ihren großen Felsenkeller als Schutzraum zur Verfügung gestellt.
Als einmal in der Stadt das Gerücht umging, nach abgehörten Berichten sei es gewiss, Limburg solle als Verkehrsknotenpunkt und wegen seiner Industrie völlig plattgemacht werden, und zwar am kommenden Tag, gerieten verständlicherweise die Menschen in Panik und reagierten wie eine Schar aufgescheuchter Hühner. Auch unsere Mutter befürchtete das Schlimmste, aber sie behielt einen klaren Kopf und sagte uns, sie wolle mit uns in den weit abgelegenen Binding-Keller gehen, der ganz sicher sei und bestimmt kein Ziel für Bombenabwürfe.
Am nächsten Morgen waren in Limburg alle Bunker voll belegt, obgleich es noch keinen Alarm gegeben hatte. Dafür erschienen in den Bunkern in ihren schwarzen Ledermänteln die Herren von der Gestapo, und versuchten zuerst freundlich, dann mit einem drohenden Unterton, und schließlich offen schimpfend, schreiend und mit der Drohung ernsterer Konsequenzen die Bunkerinsassen zur Heimkehr zu bewegen: der befürchtete Angriff sei nichts als feindlicher Betrug.
Da alle gingen, gingen wir auch, aber nicht nach Hause. Vielmehr gingen wir unter dem Bahndamm hindurch zum die Lahn begleitenden Treidelpfad, freilich nicht Richtung Stadt, sondern Richtung Autobahnbrücke. Bis dahin kamen wir freilich nicht, da heulten schon die Sirenen los: Vollalarm!
So schnell wir konnten, liefen wir in den Felsenkeller zurück, in den Schutzraum hinein und nicht nur wir, sondern viel mehr Leute, als die nun verschwundenen Gestapo-Herren vorher vertrieben hatten. Nie war ein Sirenengeheul so willkommen, wie dieses, und als nach einiger Zeit nichts geschah, wurde die Stimmung im Bunker geradezu fröhlich und blieb es auch, als der Alarm stundenlang nicht abgeblasen wurde, obwohl immer noch nichts geschah und kein einziges Flugzeug sich Limburg näherte.
Da für uns Kinder die Sache langweilig wurde, spielten wir indessen auf dem Platz vor dem Bunker Nachlauf und Versteck hinter dort lagerndem Leergut. Dabei fiel mir eine Gruppe Männer in exotischen Gewändern auf, die neben dem Bunkereingang standen, offenbar Kriegsgefangene, denn zwei bewaffnete Soldaten in Uniformen standen bei ihnen und rauchten.
Auf mich machten diese Gefangenen einen traurigen Eindruck: Sie erinnerten mich mit ihren Gewändern und Turbanen zwar an die Hl. Drei Könige, wie ich sie zur Weihnachtszeit an der Krippe der Pallottinerkirche jährlich bewunderte. Aber ihnen fehlten nicht nur ihre Kamele und Elefanten, vielmehr schauten sie immer wieder ängstlich zum Himmel auf, und man ließ sie nicht in den Schutzraum hinein. Als ich an ihnen vorbei in den Bunker ging, hörte ich sie Englisch sprechen und verstand auch das eine oder andere Wort, und dabei verwunderte mich, dass mir mein Quartaner-Englisch half, Männer aus Indien zu verstehen, denn von dort kamen sie als freiwillige Soldaten des britischen Commonwealth, wie mir die Wachsoldaten erklärten. Als ich meinte, die Männer könnte man doch ganz gut in den Bunker lassen, es wäre doch schlimm, wenn ihnen bei einem Angriff etwas zustoße, lächelte der eine der beiden Wachsoldaten vielsagend, während der andere mir mit unmissverständlicher Geste gebot, gefälligst zu verschwinden.
VII
Nach schweren Bombenangriffen im Frühjahr und Herbst 1944 gab es gegen Jahresende zwar immer häufiger Fliegeralarm, sodass wir immer häufiger in den Scheid’schen Bunker mussten; doch je weiter das Jahr fortschritt, desto glücklicher schien die Stadt von schweren Angriffen verschont zu bleiben. Wir Kinder und viele Erwachsene hatten das Bunkerwanzenleben längst satt, und sahen nicht ein, dass wir uns vor den Sirenen herscheuchen lassen sollten. Die Zeit ging auf Weihnachten zu, und Mutter klagte bei Nachbarn, dass sie noch keine Zeit gefunden habe, einen Christbaum zu beschaffen. Und uns sagte sie, sie fürchte, dass es mit Weihnachten unter Bombendrohung sicher nichts werden würde..
Ihre Furcht war mehr als berechtigt. Zwei Tage vor Heilig Abend, über die Stadt wehte ein scharfer, eiskalter Ostwind, gab es Fliegeralarm, und wir machten uns vor Kälte bibbernd auf den Weg zum Bunker. Auf halbem Wege zeigte mein Bruder zum Himmel : „Guckt mal da! Lauter Christbäume am Himmel!“ Tatsächlich trieben eine größere Zahl wie kleine Weihnachtsbäumchen funkelnde Lichter im Wind über die Stadt in Richtung Schafsberg. Das hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten, da wegen der Fliegerangriffe ein striktes Verdunkelungsgebot bestand.
Deshalb beschleunigten wir unsere Schritte, und als wir den Bunker erreichten, hörten wir schon erste Geräusche einer herannahenden Bomberstaffel. Kurz darauf platzte ein Inferno auf die Stadt herab, von dem wir im Bunker die nicht enden wollenden Explosionsfolgen hörten und heftige Erschütterungen spürten. Alle Menschen verstummten. Unsere Mutter fasste unsere Hände und zog uns ganz dicht an sich heran. Zwar wussten alle, dass der Felsenstollen wirklich sicher war, aber trotzdem erfasste, als das Licht flackernd erlosch, jeden Todesangst. Hier und da wurde eine Kerze entzündet, und aus dem Bretterverschlag, der der Bunkerverwaltung vorbehalten war, trat der Ingenieur Schramm mit einer Taschenlampe und forderte mit ruhiger Stimme auf, keinesfalls die Plätze zu verlassen und den zwanzig Metern Fels über dem Bunker zu vertrauen. Viele dachten weiter und falteten ihre Hände: Sie beteten zu Gott um Rettung.
Endlich, nach der letzten Angriffswelle, gelang es Schramm mit seinen Leuten, den Dieselmotor für eine Notbeleuchtung anzuwerfen, und es erreichten uns die ersten Berichte über das Geschehen von draußen.
Als einige Sirenen dünn Entwarnung gaben, gingen viele los, um nach ihren Häusern und Wohnungen zu schauen; die meisten jedoch, wie auch wir, trauten sich nicht, ins Dunkel und in die Totenstille hinaus, die noch immer von einigen durch Spätzünder ausgelöste Explosionen unterbrochen wurde. Erst gegen Morgen, als es schon hell wurde und sich die Meldungen zu bestätigen schienen, die Südstadt sei verschont geblieben, leerte sich der Bunker und auch wir trauten uns nach Hause.
Am 23. und 24. Dezember 1944 jagte eine Schreckensnachricht aus den betroffenen Stadtteilen die andere: Wie sich nachträglich herausstellte, hatte der scharfe Ostwind die von einem vorausfliegenden Kommando positionierten Leuchtmarkierungen nach Westen abgetrieben, und so die nachfolgenden Bomber veranlasst, ihre tödliche Last nicht über dem Kern der Stadt sondern über deren westlichen Teilen abzuladen, viele schwere Sprengbomben und hinterher einige besonders hohen Luftdruck erzeugende Luftminen.
Schwer getroffen wurden Wohnhäuser entlang der Diezer Straße, darunter das Haus, in dem meine Großeltern Sieber gewohnt hatten und meine leibliche Mutter aufgewachsen war. Viele Bomben gingen auf das ausgedehnte Bahngelände und dessen Gleisanlagen nieder, aber Glück im Unglück, sehr viele fielen auch ins freie Feld. Sehr, sehr schlimm jedoch traf es die in ihren Baracken ganz ungeschützten Kriegsgefangenen im Freiendiezer Lager.
Traurigere Weihnachten hat meine Heimatstadt nicht erlebt. Noch lange Zeit beschäftigte mich das Schicksal eines Klassenkameraden, der in einem damals neu erbauten Wohnhaus an der Teewiese wohnte und mit seinen Eltern im häuslichen Luftschutzkeller den Angriff erlebte. Als so viele Bomben in der Nähe seines Wohnhauses explodierten, lief er in Panik aus dem Haus und rannte einen der kleinen Fußwege den Schafsberg hinauf. Dort erfassten ihn die Druckwellen der den Sprengbomben folgenden Luftminen; seine Eltern suchten ihn lange; sie fanden ihn am Weihnachtstag mit zerrissenen Lungen: tot.
Dagegen war die Tatsache, dass dieses Weihnachten das einzige meines langen Lebens war, an dem wir - von mitleidigen Nachbarn uns auf den Balkon gestellt - zwei Christbäume hatten und doch keinen geschmückten, eine Nebensache, aber doch eine unvergessliche und symbolische.
VIII
Zu unseren Bunkererfahrungen gehörte auch, dass wir in den letzten Kriegsmonaten vor den Türen des Bunkers erlebten, wie Eis geerntet und in Kellern zum späteren Verbrauch eingelagert wurde. Wir Bunkerkinder vertrieben uns die Langeweile zwischen dem einen und dem nächsten Fliegeralarm mit Spielen und Aktionen auf dem zugefrorenen Weiher der Brauerei Busch, und wir sahen gar nicht gerne, dass deren Arbeiter, als das Eis richtig fest und dick genug geworden war, mit Sägen und Äxten anrückten, Löcher in die schöne glatte Fläche schlugen und dann mit langen Sägen das Eis in schmale Streifen schnitten. Diese zerteilten sie wiederum in meterlange Stücke, die aus dem Wasser gefischt und auf Wagen geladen und abtransportiert wurden. Dabei entstanden je nach Fortschritt der Arbeiten größere Eisinseln, die dann auf dem Wasser trieben. Den Älteren schauten wir Kleineren ab, dass man auf diese Inseln springen und sie mit einem längeren Stock wie ein Floß bewegen konnte.
Das Wasser im Teich hatte aber auch ein wenig Eigenbewegung, und als ich mir nach der Größeren Vorbild ein Herz fasste, auch auf eine solche Insel zu springen, verzögerte ich erschrocken meinen Absprung, als genau in diesem Augenblick die Sirenen zum Vollalarm bliesen - und verfehlte die inzwischen davongetriebene Insel und stand plötzlich bis zum Bauch im Wasser. Wohl kletterte ich rasch zurück auf den festen Eisrand, aber ich triefte aus beiden Hosenbeinen und jeder Schritt wurde zu einem eiskalten Schauer, über die sich die, die noch nicht in den Bunker gerannt waren, köstlich amüsierten. Als ich dort eintraf, erwarteten mich nicht nur Scheltworte, sondern zusätzlich die Blamage, mich vor allen unseren Bunkernachbarn ausziehen zu müssen, bevor man mir eine wärmende Decke gönnte.
IX
Im Bunker als unserer zweiten Heimat erlebten wir auch das Kriegsende. In den letzten Märzwochen häuften sich die Tieffliegerangriffe derart, dass wir uns kaum noch aus der Reichweite des Bunkers herauswagten. Das änderte sich auch nicht, als wir erfuhren, die Amerikaner hätten die Stadt inzwischen eingenommen. Dem war am Palmsonntag ein letzter heftiger Bombenangriff vorausgegangen, und nach blutigen Kämpfen war inzwischen, so sagte man uns, auch die Südstadt den vorandrängenden Amerikanern zugefallen. Da wir mehrere Tage nicht aus dem Bunker heraus konnten, war uns das Brot ausgegangen.
Als wir frühmorgens hörten, die Bäcker in der Stadt würden trotz allem noch backen und Brot abgeben, erbat ich mir von unserer Mutter etwas Geld und wollte versuchen, durch die Frankfurter Straße zu einer der Bäckereien vorzudringen. Die lief ich also hinab, überquerte auch ungehindert den Bahnübergang, neben dem auf einem Abstellgeleis an der Eisenbahnstraße eine Flak auf einem Eisenbahnwagen verwaist stand und ihre Rohre in den jetzt ruhigen Himmel richtete. Ich lief, was ich konnte, um vor der Meurers Bäckerei unvermittelt erstmals in meinem Leben auf einen toten Menschen zu treffen.
Da lag, wohl in der vergangenen Nacht gefallen, ein amerikanischer Soldat mit einem Schuss in die Stirn auf dem Rücken, die Arme nach hinten ausgebreitet, in der Rechten seine Maschinenpistole haltend, an der linken Hand eine ungewöhnlich große Armband-uhr. Er hatte ein ganz junges und schönes Gesicht, nur die schreckliche Wunde passte irgendwie nicht dahin. Als ich ihn sah, dachte ich urplötzlich daran, dass um ihn seine Mutter in Amerika bitter weinen werde.
Sonst war die Straße menschenleer und um weiterzukommen, machte ich einen großen Bogen um den toten Soldaten. Die Meurers Bäckerei war geschlossen, weshalb ich schnellstens weiterlief. Und ich weiß nicht mehr, wie ich in den Bunker zurückkam, nur noch, dass ich auch in den Bäckereien am Bischofsplatz nichts erreichte und schrecklich verwirrt im Bunker ankam.
Am gleichen Tag noch kamen amerikanische Soldaten in unseren Bunker, um diesen zu kontrollieren und zu übernehmen. Ingenieur Schramm, der in Vorkriegszeiten einige Jahre in den USA gewirkt hatte, ermahnte im Bunker alle, ihm evtl. vorhandene Waffen abzugeben, da er sie bei der Übergabe auszuliefern gedenke. Dem folgte man auch ohne Widerspruch, und als das Kommando zum Bunker kam, empfing er die überraschten Soldaten mit freundlichen Worten in exzellentem Englisch. Dann führte er sie in den Bunker hinein, die mit aufgespannten Eierhandgranaten in Händen an den Bankreihen der brav beiderseits in höchster, angstvoller Spannung dasitzenden Leute vorbeigingen.
Die löste sich in allgemeines Gelächter, als Wickers Karla, viele Jahre mein Sitznachbar in der Schule, zum letzten der Soldaten, als der an ihm vorbeiging, lauthals sagte: “ Please, chocolate, please!“ und der, ein Farbiger übrigens, tatsächlich in seine Tasche griff und ihm einen Candy-Riegel reichte. Der Karla krähte: “Thank You, thank You!“ und hielt seine Beute strahlend in die Luft.
Danach war die Übergabe des Bunkers nur noch eine Formalität, Schramm und einer der Soldaten trugen gemeinsam einen verdeckten Korb aus dem Bunker, vermutlich die eingesammelten Waffen, dann inspizierten die Amerikaner noch den uns unzugänglichen Fabrikteil des Bunkers - und damit begann für uns die Besatzungszeit.