Peter Paul Schweitzer

Auch Bileam sah den Engel erst im Nachhinein

Nur zwei Propheten, die die Heilige Schrift erwähnt, sind auch außerbiblisch bezeugt, Johannes der Täufer im Neuen und Bileam im Alten Testament. Über Johannes schrieb auch Josephus, der Historiker der Jüdischen Antike, und Bileam bezeugt auch eine vorgeschichtliche Inschrift aus dem Jordantal. Während der Täufer nicht zuletzt durch die Oper Salome von Richard Strauß auch außerhalb der kirchlichen Verkündigungen bekannt ist, hat Bileam eigentlich nur durch die in einigen Kinderbüchern verbreitete Erzählung vom Streit mit seiner Eselin einen gewissen, wenn auch bescheidenen Bekanntheitsgrad erreicht.

I

Bileam war ein syrischer Wahrsager, der weit über die Grenzen seiner Heimat am Großen Fluss Berühmtheit erlangt hatte.

In seinen Tagen herrschte über eine längere Zeit eine große Dürre, weshalb die Schafe und Ziegen der Hirtenvölker nichts mehr zu fressen fanden und Mensch und Vieh in große Hungersnot gerieten.

Nur die östlich des Jordans lebenden Moabiter hatten Glück; bei ihnen wuchsen noch immer einige Kräuter und etwas Gras, so dass die Tiere der Moabiter noch einigermaßen mit ihrem Futter auskamen. Die in den Bergen und im trockeneren Flachland lebenden Hirten traf der Regenmangel viel härter; verzweifelt versuchten sie deshalb nach neuen, besseren Weideplätzen für ihre Herden. Als sie von Moab hörten, dass es dort noch schönes Futter für ihre Herden gäbe, wollten sie natürlich mit ihren Tieren nach Moab ziehen.

Jedoch Balak, der König von Moab, sah das nicht gerne und schickte deshalb seine Kämpfer immer dorthin, wo Hirten nach Moab hinein ziehen wollten, und ließ die hungrigen Menschen und Tiere vertreiben. Als dem König aber gemeldet wurde, dass jetzt auch noch das große Volk der Israeliten mit ihren Herden nach Moab kommen wollte, bekam Balak Angst. Und er schimpfte erst einmal tüchtig, jetzt werde dieser Haufen ringsum alles abfressen und wie Rinder alles Gras von den Wiesen seines Landes abweiden. Die Ältesten von Moab jedoch merkten, dass den König ein schreckliches Grauen vor den Israeliten gepackt hatte, und waren froh, als er nach einem Ausweg suchte, damit es nicht zu einem Kampf mit den starken Israeliten käme.

Und König Balak beschloss, Boten an den großen Strom zu schicken, wo Bileam lebte; diese sollten dem berühmten Mann folgende Worte König Balaks vortragen:

»Aus Ägypten ist ein Volk herangezogen, das das ganze Land bedeckt und sich nun mir gegenüber niedergelassen hat. Darum komm her und verfluche mir dieses Volk; denn es ist zu mächtig für mich. Vielleicht kann ich es dann schlagen und aus dem Lande vertreiben.

Ich weiß: Wen Du segnest, der ist gesegnet; wen du verfluchst, der ist verflucht.«

Also machten sich einige Älteste aus Moab als Boten auf den Weg zum Großen Strom, und in ihren Händen trugen sie Wahrsagerlohn. Als sie zu Bileam kamen, trugen sie ihm König Balaks Worte vor. Da lud Bileam die Boten ein, bei ihm zu übernachten, und wenn sie ausgeschlafen hätten, wolle er ihnen sagen, was Gott ihm eingebe. So blieben Balaks Hofleute bei Bileam über Nacht.

In der Nacht hatte Bileam einen Traum: Gott kam zu ihm und fragte ihn, wer die fremden Männer seien, die bei ihm wohnten. Bileam antwortete, was er wusste, und sagte, was sie wollten. Da sagte ihm Gott: »Geh nicht mit! Verfluche das Volk nicht, denn es ist gesegnet.« Am nächsten Morgen stand Bileam auf und sprach zu den Königsboten: »Kehrt in euer Land zurück; denn Gott erlaubt mir nicht, mit Euch zu gehen.« So mussten Balaks Hofleute unverrichteter Dinge abziehen und zu ihrem König zurückkehren.

Aber König Balak nahm solch eine Abfuhr nicht hin, vielmehr schickte er nun mehr Boten als das erste Mal, vornehmere Hofleute mit größerem Wahrsagerlohn. Sie sollten Bileam besser zureden und größeren Lohn anbieten, wenn er sich nur nicht abhalten ließe und sofort zu Balak käme: »Ach, alles was er verlangt, kann er von mir bekommen, wenn er mir nur dieses lästige Volk verflucht!«.

Bileam empfing die zweiten Botschafter ebenso freundlich wie die ersten und bot ihnen auch wieder ein Nachtlager an, aber er machte auch ihnen keine Hoffnungen, dass er seine Ablehnung ändern könne. Denn er werde niemals etwas tun, was ihm Gott untersagt habe, sei dies in einer wichtigen oder in einer unwichtigen Sache.

Doch als ihm in der folgenden Nacht wiederum der Herr im Traum erschien, sagte ihm dieser, wenn die Boten gekommen seien, ihn zu holen, solle er doch getrost mit ihnen gehen. Freilich dürfe er nur das tun, was Gott ihm sage. So zog am darauf folgenden Morgen Bileam mit den zu ihm gesandten Hofleuten aus Moab.

Auf dem Weg nach Moab, Bileam ritt auf seiner Eselin, wurde er von zwei jungen Männern begleitet. Wie sie so ihres Weges zogen, ließ Gott, dem die ganze Geschichte nicht gefiel, seinen Engel dem Bileam den Weg versperren. Das sah Bileams Eselin und blieb vor dem Engel, der ein flammendes Schwert in seiner Hand gezückt hielt, stehen. Bileam aber sah den Engel nicht, sondern dachte, die Eselin sei störrisch, und trieb sie an. Nun wich die Eselin vom Weg aufs Feld aus und umging so den Engel. Da schlug Bileam seine Eselin, bis sie auf den Weg zurückging.

Doch nicht lange danach, auf dem schmalen Weg durch die Weinberge, die zu beiden Seiten Mauern hatten, stellte sich der Engel Gottes Bileam und seiner Eselin schon wieder entgegen. Als die Eselin den Engel erblickte, schob sie sich an der Mauer entlang, weil sie am Engel vorbei weitergehen wollte und drückte dabei Bileams Bein gegen die Mauer. Verärgert schlug Bileam wieder auf seine Eselin ein, bis sie endlich weiterging.

Jedoch nicht lange, da hatte der Engel eine so enge Stelle zwischen den Mauern gefunden, dass die Eselin keinen Durchschlupf mehr finden konnte. Als er sich dort mit seinem flammenden Schwert Bileam entgegenstellte, konnte ihm die Eselin nicht mehr ausweichen, und sie ging in die Knie und legte sich unter Bileam auf den Weg. Da wurde Bileam richtig zornig, und wütend drosch er auf seine Eselin ein.

Nun öffnete Gott der Eselin den Mund, und sie sagte zu Bileam: »Was habe ich dir getan, dass du mich schlägst und schlägst und immer wieder schlägst?«

Bileam erwiderte: »Weil du mich zum Narren hältst! Hätte ich ein Schwert bei mir, hätte ich dich schon längst umgebracht«.

Darauf die Eselin: »Bin ich nicht deine treue Eselin, auf der du schon viele Jahre und Monate und Wochen und Tage reitest? Und kannst du dich beklagen, dass ich auch nur einmal dir den Dienst verweigert habe?«

Bileam musste zugeben: »Nein«.

Und Gott öffnete Bileam die Augen, und der sah den Engel vor sich auf dem Weg stehen, das Flammenschwert gezückt in Händen. Und es verneigte sich Bileam und warf sich beschämt auf sein Gesicht nieder. Und der Engel fragte ihn: »Warum hast du deine Eselin dreimal geschlagen? Warum? Warum? Warum ?« Das verschlug Bileam die Sprache.

Der Engel Gottes aber fuhr fort: »Ich habe mich dir im Weg entgegen gestellt, weil der Weg, den du gehst, zu abschüssig ist. Deine Eselin hat mich gesehen und ist mir dreimal ausgewichen. Hätte ich euch gehen gelassen, wärt ihr schon nicht mehr am Leben.«

Erschrocken sagte da Bileam zum Engel: »Ich habe gesündigt. Ich wusste nicht, dass du mir im Wege standest. Jetzt sehe ich ein, ich muss und will umkehren; mein Vorhaben gefällt dir nicht.«

Doch der Engel Gottes befahl Bileam: »Zieh mit den Männern! Aber rede und tu nur das, was ich dir sage.«

Und Bileam zog mit den Hofleuten zu König Balak. Der kam ihm, als er hörte, der Seher sei auf dem Wege zu ihm, bis an den Grenzfluss von Moab entgegen und begrüßte ihn mit den Worten: »Warum bist du nicht gleich gekommen? Ich kann dir doch eine großen Lohn geben, wenn du nur ...«

Bileam darauf: »Ich bin zwar gekommen, aber ich kann nur reden, was Gott mir in den Mund legt«. Und dabei blieb Bileam, auch als der König der Moabiter es dreimal versuchte, ihn dazu zu bringen, dass er ihm seinen Willen erfülle. Nein, er verfluchte die Feinde des Königs nicht, und wiederholte mehrmals seine Entscheidung: »Und wenn mir der König sein Haus voller Silber und Gold gibt, ich kann dem Wort Gottes nicht zuwider handeln und nach meinem Gutdünken Gutes oder Böses bewirken. Ich muss sagen, was Gott mir sagt.«

Darauf versuchte der König Bileam mit süßen Worten, mit schönen Geschenken, mit großen Versprechen einzulullen. Und dann nahm er ihn auf eine Reise mit und führte ihn schließlich auf einen hohen Berg. Von dem aus hatte man eine gute Aussicht, sah das ganze Land und auch zu Füßen des Berges die hungernden Hirten, die so gerne auf das fruchtbare Weideland Balaks gezogen wären.

Dort forderte Balak Bileam auf, seinen Seherspruch zu sagen. »Warte«, sagte Bileam zu Balak und ging beiseite und stieg bis auf eine kahle Höhe hinauf; in der Nacht legte ihm dort in der Einsamkeit Gott seinen Spruch auf die Zunge. Mit geschlossenem Mund ging Bileam dann zu Balak hinab, und als der König ihn dort aufforderte, das Volk zu verfluchen, sprach er: »Wie soll ich verwünschen, wen Gott nicht verwünscht? Wem drohen, dem Gott nicht droht? Ich kann nur segnen, den Gott segnet - dieses Volk.«

O Weh, war da der König sauer, aber er probierte es noch einmal mit Bileam, doch Bileam ließ sich nicht verleiten. Er antwortete dem zornigen König: »Musste ich nicht das aussprechen, was mir Gott auf die Zunge gelegt hatte?«

Schließlich brachte ihn Balak auf einen hohen Felsen, und probierte es mit Bileam zum dritten Male. Vielleicht ging es dort endlich besser, dachte Balak, und er ermahnte den Wahrsager, wenn er die Menschen schon nicht verfluchen wolle, so solle er sie doch wenigstens nicht segnen.

Ihm antwortete Bileam: »Denkst du, Gott ist ein Mensch, der heute so redet und morgen anders? Oder wie deine Hofleute, die dir heute dies vorlügen und morgen etwas anderes? Ich kann nur sagen, was er mir eingibt, und dort redet Gott nicht anders als hier.'«

Aber der König dachte: »Woher will Bileam das wissen? Ich lasse Gott ein schönes Opfer darbringen auf einem großen Altar, und dann probieren wir es hier noch einmal; Gott wird ihm sicher eingeben, die fremden Hirten zu verfluchen«.

Obwohl Bileam den König warnte, Gott nicht zu bedrängen, verlangte Balak einen neuen Spruch. Also hob Bileam seine Augen auf und sah die Israeliten, wie wie sie nach ihren Stämmen lagerten. Und der Geist Gottes kam auf ihn. Und er musste seinen Mund auftun und sprechen:

»Es sagt Bileam, es sagt der Mann, dem das Auge erschlossen ist, es sagt der Hörer göttlicher Reden, der den Allmächtigen im Träume sieht, welcher niederfällt, und dem die Augen geöffnet werden:

Wie schön sind deine Zelte, o Jakob,

und deine Wohnungen, o Israel!

Wie Täler, die sich ausbreiten,

wie Gärten am Strom,

wie Heilkräuter, die der Herr gepflanzt hat,

wie Zedern am Wasser.

Wasser wird aus seinen Brunnen fließen,

und sein Same im fruchtbar bewässerten Erdreich aufgehen.

Gesegnet, wer dich segnet,

und verflucht, wer dir flucht!«

Da ergrimmte Balak zu großem Zorn gegen Bileam und schlug die Hände ineinander und sprach zu Bileam: »Ich habe dich gerufen, dass du meinen Feinden fluchst, und siehe, du hast sie nun dreimal gesegnet! Und nun mach dich fort an deinen Ort! Ich gedachte dich hoch zu ehren; aber siehe, dein Herr hat dir jede Ehre vermasselt!«

Bileam antwortete dem Balak: »Hatte ich nicht schon zu deinen Boten, die du mir sandtest, gesagt und gesprochen: Auch wenn mir Balak sein Haus voll Silber und Gold gäbe, so könnte ich doch die Weisung des Herrn nicht verlassen? Sagte ich nicht, was der Herr reden werde, das werde ich auch reden? So, nun siehe, da ich jetzt zu meinem Volk heimziehe, so komm, ich will dir sagen, was dieses Volk vor uns in späteren Tagen tun wird.«

Und er begann erneut einen Spruch und sprach:

»Es sagt Bileam, es sagt der Mann, dem das Auge erschlossen ist,

es sagt der Hörer göttlicher Reden,

der im Traum den Allmächtigen sieht und niederfällt,

und dem die Augen geöffnet wurden:

Ich sehe ihn, aber jetzt noch nicht;

ich schaue ihn, aber noch nicht in der Nähe:

Ein Stern tritt aus Jakob hervor,

und ein Zepter kommt aus Israel.

Ja, wie aus dem dunklen Himmel der Nacht

kommt zuletzt der helle Morgenstern,

der einmal untergeht

und dennoch immer wiederkehrt.«

Dann brach Bileam auf, kehrte in seine Heimat am großen Strom zurück, und auch der König Balak zog seiner Wege.

II

Die Geschichte von Bileam, der alles immer erst einmal falsch machte; seiner treuen Eselin, die es doch so gut mit ihm meinte und dafür nur Schimpfe und Schläge bekam; vom Engel mit dem gezückten Schwert, der den Bileam vor dem Schlimmsten bewahren musste; dem König Balak, der mit Gewalt und Flüchen seine Nachbarn verjagen wollte, statt ihnen in ihrer Not beizustehen - diese Geschichte stammt aus den Alten Heiligen Schriften Israels, wo man sie - obwohl sie viele Jahrhunderte alt ist - noch heute nachlesen kann. Die Kinder lieben besonders ihren Anfang, und die Erwachsenen können verstehen, dass um der Zeilen am Ende willen, die Worte dieser Erzählung mit allem Silber und Gold dieser Welt nicht aufzuwiegen wären.

Man wird sich deshalb fragen, warum ich, wenn ich mich, der ich doch in meinem langen Leben so manches geschrieben habe, erst in meinen letzten Jahren mit der Bileam-Erzählung beschäftigte, und das nicht für mich behalte? Ich sei doch schließlich kein Kind mehr.

Nun ja, frage ich dagegen, könnte man mir diese Eselei nicht als Alterstorheit durchgehen lassen?

III

Vor drei Jahren im April überraschte mich mein Arzt bei einer Routine-Untersuchung mit der sonographischen Feststellung eines Tumors an der rechten Nebenniere. Zwar wusste ich schon seit zehn oder zwölf Jahren, dass an dieser Stelle etwas nicht stimmte; man hatte mir schon damals gesagt, dass mein hoher Blutdruck, der mich vor 15 Jahren zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Lehrberuf gezwungen hatte, wohl auch mit einer Überfunktion und Wucherung der rechten Nebenniere zusammenhängen könnte, die man deshalb im Auge behalten müsse. Dennoch hatte ich eine solche Überraschung nicht im Entferntesten erwartet.

Über die Gefährlichkeit des Tumors wussten wir nichts; er war nicht allzu groß, etwas stärker als seine Umgebung durchblutet, konnte also ebenso ein relativ harmloses Adenom sein wie auch ein bösartiges Karzinom. Dr. Walter, mein Nephrologe, riet mir zur operativen Entfernung des Tumors, dies würde, dächte man statistisch, meine Lebenserwartung entscheidend verbessern. Nein, besonders riskant sei solch ein Eingriff nicht, wenn ich mir als Operateur einen in solchen Operationen erfahrenen Urologen suchte. Der zuerst notwendige Schritt sei aber eine Computer-Tomographie, die sicher schon eine nähere Auskunft ergeben würde.

Es dauerte einige Zeit, bis ich einen Termin für diese Untersuchung erhielt. Ich musste morgens frühzeitig in die Klinik. Dort wurde mir von meinem Arzt eine größere Infusion angehängt, die vor allem eine gründliche Durchspülung der Nieren bewirken sollte. und sollte dann in der Tages-Ambulanz im Keller der Klinik deren Verlauf abwarten. Da ich mit so geringen Temperaturen, wie sie in den Räumen der Ambulanz herrschte, nicht rechnen konnte, also nur relativ leicht bekleidet dorthin ging, begann ich alsbald ziemlich zu frieren, und als sich die Infusion auszuwirken begann, kam ich in doppelter Hinsicht in laufende Bewegung, bei der mich das fahrbare Gestell mit der von einer fröhlichen Krankenschwester immer wieder erneuerten Infusionsflasche nur widerwillig zu begleiten bereit war.

Endlich packte mich die fröhliche Schwester auf ein Krankenbett und schob mich durch verschiedene Türen und längere und kürzere Gänge vor die Türe des Computer-Tomographen. Der war aber von meiner Ankunft wenig beeindruckt und ließ mich zunächst einmal warten. Das hieß, meine laufenden Bedürfnisse waren nun noch durch ein an der Einfusionsflasche hängendes allerdings fahrbares Krankenbett behindert, von dem ich aber die Flasche zu lösen verstand, um mich mit ihr in eine nicht allzu weit entfernte, glücklicher Weise unbesetzte Toilette zu flüchten. Kaum zu meinem Bett zurückgekehrt, musste ich feststellen, dass der Tomograph, aufs Warten offensichtlich wenig erpicht, inzwischen eine junge und hübsche Dame mir vorgezogen hatte, verständlich, aber meine laufenden Qualen unsäglich verlängernd.

Doch auch die hatten, wie alles auf dieser Welt, dann doch einmal ein Ende, und der Tomograph empfing mich mit sanfter Musik aus einem verborgenen, sonoren Lautsprecher. Die den Tomographen bedienende Röntgen-Assistentin befreite mich von meiner so anhänglichen Gewässerquelle, was mich erleichtert aufseufzen ließ. Dann dirigierte sie mich auf eine schmale, bewegliche Liege, auf der sie mich vorsichtshalber mit einigen Gurten festschnallte, und gab mir noch einige, wenige aber wohlgemeinte Verhaltensregeln.

Dann verließ sie mich, um es fortan dem Tomographen durch seinen Lautsprecher zu überlassen, mir mit metallischer Stimme zu sagen, was ich zu tun und zu lassen hatte:

Tief einatmen, bitte!

Jetzt Luft anhalten, bitte!

Und jetzt ausatmen und weiteratmen bitte!

Es waren aber nicht nur diese Atemübungen, die der Tomograph mit mir veranstaltete, er schob mich auf meiner Liege auch hin und her, und in einen Großen Reifen aus Metall hinein, und in diesem hin und her, und her und hin. Und jedesmal, wenn er mich auf meiner Liege ein Stück vor oder zurückgeschoben hatte, ertönte seine blecherne Stimme:

Tief einatmen, bitte!

Jetzt Luft anhalten, bitte!

Und jetzt ausatmen und weiteratmen bitte!

Das ging eine Weile so fort, bis der Tomograph es leid wurde, laut schnaufte und selbst anhielt und auch mich nicht mehr hin- und herschob. Schon dachte ich, ich würde nun aus meiner angeschnallten Lage befreit; doch fehlgedacht, die Röntgen-Assistentin erschien nun mit einer Spritze und lächelte mich vielsagend an. Dann band sie meinen rechten Arm ab und beglückte meine rechte Armvene mit einer gehörigen Portion einer mir unbekannten Flüssigkeit. »So«, sagte sie freundlich, »nun warten wir einige Zeit, bis sich das in Ihrem Körper verteilt hat, und dann machen wir noch ein paar schöne Aufnahmen ...« Na ja, darauf hätte ich gerne verzichtet. Aber was sollte ich machen? Ich ließ alles ruhig über mich ergehen, nein, es sich in mir ausbreiten.

Davon merkte ich freilich nichts, aber da sonst vorläufig nichts Entscheidendes mehr geschah, machte mir meine Blase erst sanft, dann aber mit rasch zunehmender Dringlichkeit bewusst, dass alle Flüssigkeiten, die mir in den letzten Stunden zugeführt worden waren, auch wieder abgeführt werden wollten.

Mir war das, wie jeder verstehen wird, außerordentlich peinlich, und ich versuchte es zunächst mit unterdrückenden Methoden, wie man sie in vergleichbaren Situationen anwendet, allgemein bekannt mit wechselndem Erfolg. Als die zu versagen drohten, nahm ich mir ein Herz, redete mir ein, in solche Verlegenheiten seien doch gewiss schon andere Patienten geraten, und ich könne deshalb - ohne mich schämen zu müssen - die Assistentin zu Hilfe rufen. Aber die wollte, als sie hörte, welche Schwierigkeit da zu beheben war, verständlich, verständlich, denn doch lieber einen Krankenpfleger bemühen. Der wurde also herbei beordert, was eine ganze Weile dauerte, während der ich mir mit Schrecken ausmalte, wie der alles beherrschende Tomograph wohl auf einen plötzlich einsetzenden Regen und die dann unvermeidlich folgende Überschwemmung reagieren würde? Ob er dafür auch so freundliche Sprüche auf Lager hatte?

Doch dann kam ein Krankenpfleger mit einer Ente und einem trockenen Witz, und beides wirkte ungemein entspannend auf mich und die Situation und wohl auch auf den Tomographen, der dann auch seine übliche Tätigkeit wieder aufnahm und schließlich auch beendete.

Von allen Banden befreit durfte ich dann noch das kleine Weilchen von einer dreiviertel Stunde warten, in der der Tomograph, was immer er aus mir scheibchenweise herausgeröntgt hatte, in moderne schwarzweiße Graphiken umwandelte. Und, da sich die moderne Kunst durch normalen Menschen unverständliche Rätsel auszeichnet, war ich dem inzwischen hinzugeeilten Röntgenologen dankbar, dass er mir die Untersuchungsergebnisse in dem schlichten Satz zusammenfasste: »An Ihrer rechten Nebenniere befindet sich ein kleiner Tumor, ob gut- oder bösartig lässt sich nicht sagen, von dem Sie sich baldmöglichst trennen sollten.«

Aha. Das war also die nähere Auskunft.

Ich wusste nun wirklich nicht, was ich tun sollte. Inzwischen rückte mein 75. näher, der mir immerhin, wenn ich nicht sofort in die nächste Klinik rannte, mir die Chance bot, wenn schon mein letzter, so doch immerhin ein stattlicher Geburtstag zu werden, der sozusagen ein vorzeigbares Lebensalter auswies. Also erst danach. Wer lässt sich schon gerne operieren, und das auch noch, wenn keiner weiß, ob das überhaupt dringend nötig ist. Die Risiken, die Narkose und Krankenhausinfektionen in meinem Alter bedeuteten, waren doch nicht gerade gering, von den unvermeidlichen Schmerzen und Unannehmlichkeiten einmal ganz abgesehen. Jedenfalls erst nach dem Geburtstag. Und sollten wir nicht doch erst einen richtig schönen Sommerurlaub am Meer machen? Schwimmen im Meer, am Strand in der Sonne liegen, den Vögeln nachschauen und den Schiffen draußen am Horizont?

Ich schlief schlecht, hatte allerhand Angstträume, musste mir einige Lebensabschnitte, an die ich mich nicht gerne erinnerte, filmartig in meinem inneren Kino ansehen, ohne einen Ausgang zu finden, ohne einen Schalter zu sehen, der dem hässlichen Projektor den Strom hätte abstellen können. Was auch immer ich unternahm, diese ja leider allzu wahren lebenden Bilder loszuwerden, es half nichts, je heftiger ich mich gegen sie wehrte, sie wegzudrängen suchte, desto mehr und schärfer setzten sie mir zu.

Schließlich suchte ich eine Ärztin in unserer Nachbarschaft auf, eine herzensgute und äußerst resolute Frau, die ich um ein Rezept für ein paar Beruhigungs- und Schlaftabletten bat. Mit ihr kam ich in ein gutes Gespräch, in dem sie mir einen ihr bekannten Spezialisten für sonographische Untersuchungen an einer sehr bekannten Klinik für Diagnostik empfahl.

Die Untersuchung durch diesen Diagnostiker nahm einen halben Vormittag in Anspruch; danach war er mit seinen Ergebnissen noch nicht zufrieden und schlug mir vor, nach der Mittagspause noch einmal zu ihm zu kommen; er wolle sich mit einer speziellen Methode die Durchblutung der fraglichen Stelle genauer ansehen und hoffe, danach Genaueres sagen zu können.

In der Mittagspause, nach ein paar ohne Appetit durch einen vor lauter Angst verschlossenen Hals herunter gewürgten Happen, machten wir einen kleinen Spaziergang durch einen als Arboretum angelegten und beschrifteten alten Park. Unter wunderbar alten und seltenen Bäumen schritten wir auf moosgepolsterten Wegen wie durch ein Paradies - ohne dass ich einen Blick für die Naturschönheiten aufgebracht hätte, so pochte mein Herz und jagte mir kochendheiß die Panik in den Kopf.

Ich war heilfroh, als die Mittagszeit vorbei war, und die Untersuchung fortgesetzt werden konnte. Die ergab, dass die Geschwulst wohl eher bös- als gutartig sein durfte, aber natürlich auch umgekehrt eine echte Chance hatte, relativ harmlos zu sein. Dieser Arzt riet mir, um Schlimmeres auszuschließen, mich nach einem guten Chirurgen umzusehen.

Dann eröffnete er mir, dass er die Mittagspause zu einem Consilium mit einem Röntgenologen und einem Urologen aus seinem Hause genutzt habe, die mir das Gleiche rieten. Der daraufhin zugezogene Urologe bot sich mir an, den Tumor zu entfernen, schilderte mir in blutiger Genauigkeit, wie man eine solche Operation ausführe, was aber insgesamt keine allzu große Sache sei, man müsse nur sicher gehen, dass die Geschwulst noch nicht gestreut habe, was bei Nierenkarzinomen gerne in der Blase zu weiteren Tumoren führe.

Ziemlich plattgebügelt gingen wir davon, nicht ohne uns von der Klinik Unterlagen zu besorgen, mit denen ich mich zu einer Operation anmelden konnte, wenn ich ... überhaupt ...

Die nächsten Tage durchlebte ich im Zickzackkurs: Nüchtern sagte ich mir, dass die Ärzte in der Klinik für Diagnostik Recht hatten, mir zu empfehlen, jedes Risiko auszuschalten. Aber das hieß ja nicht: unbedingt operieren! Auch Operationen selbst sind riskant, weniger für den Chirurgen als für sein Schlachtopfer. Immerhin hatte ich in meinem Leben vier größere Operationen hinter mir, Blinddarmentzündung als Kind, zwei Operationen links wegen Nierensteinen und eine vierte zur Entfernung einer Nebenschilddrüse, wegen eines Adenoms, weshalb ich vermuten durfte, auch an der rechten Nebenniere sei ein Adenom entstanden. Empfahl es sich da nicht, dessen Überfunktion weiterhin hinzunehmen, anstatt erneut das Risiko einer größeren Operation einzugehen? Ja und nein, hin und her, was war vernünftig? Warum rieten mir meine Gefühle so aufdringlich ab? Nur weil ich mich fürchtete? Alle, deren Urteil mir etwas galt, sagten mir, ich müsse das selbst wissen und entscheiden. Aber wie? Was war wirklich ratsam?

Obgleich noch lange nicht entschlossen, suchte ich unterdessen nach einer geeigneten Klinik, studierte Prospekte, durchforstete das Internet: Wo gab es einen Urologen, der die nötigen Erfahrungen auf diesem Gebiet erworben hatte und nicht nur mit gutem Essen und exzellenten Hoteleigenschaften nach Patienten fischte? Wessen Empfehlungen konnte man trauen? Ach, es war zum Verrücktwerden!

Eine erste Vorentscheidung fiel, als mir meine jüngste Tochter über eine befreundete Anästhesistin einen Oberarzt an der urologischen Uni-Klinik in Mainz benannte, der nicht nur ein hervorragender Chirurg sei, sondern auch menschlich einen fast herzlichen, aber jedenfalls verständnisvollen Umgang mit seinen Patienten pflege. Als ich dann noch herausfand, dass zwei andere Kliniken, an die wir zunächst gedacht hatten, sich auf ganz andere, viel häufigere Behandlungen spezialisiert hatten, trug das zur Wahl von Mainz bei.

Die zweite Vorentscheidung fiel, als ich mit einem Bericht aus der Klinik für Diagnostik zur Ärztin in der Nachbarschaft ging, vor allem um mit ihr die auf ihren Rat entstandene Situation zu besprechen. Auch sie stimmte, nachdem sie die Berichte gelesen hatten, dem dem Rat zu, möglichst rasch den Tumor beseitigen zu lassen, und fügte wohlüberlegt meine Verzögerungstaktiken richtig einschätzend hinzu: »Und was haben Sie zu gewinnen, wenn Sie die Geschichte vor sich herschieben? Sie werden nur älter und vergrößern damit das OP-Risiko, von dem Tumor einmal ganz abgesehen, der ja auch nicht stillhält, bis Sie sich aufgerappelt haben.« Dann bot sie mir an, einen Operateur für mich zu suchen und für einen möglichst baldigen Termin zu sorgen, denn mittlerweile waren die damals sehr frühen Sommerferien in greifbare Nähe gerückt.

Aber das wollte ich nun auch wieder nicht, sondern sagte, ohne es mir richtig zu überlegen, wir hätten uns schon Mainz ausgesucht, und das wäre doch vielleicht gar nicht so schlecht. Damit war die Ärztin sehr einverstanden - und ich musste nun nur noch zu meinem Wort stehen.

Das tat ich denn auch, vereinbarte noch am gleichen Nachmittag mit der Ambulanz der Urologie in Mainz einen Vorstellungstermin, auf den ich zunächst vierzehn Tage warten musste. Seltsam, jetzt, da ich einen festen Termin und einen gangbaren Weg vor mir sah, beruhigten sich meine Seele und vor allem Innereien einigermaßen, und ich hatte zu tun, bis zu diesem Termin wenigstens im Gröbsten meine Dinge zu ordnen.

Auf dem großen Gelände der Mainzer Universitätskliniken nimmt sich das Gebäude der Urologischen Klinik, das aus einem Zentralbau mit zwei in schrägem Winkel angebauten Flügeln besteht, deshalb als eher unscheinbar aus, weil es von keinem der Wege aus, auf denen man es erreichen kann, ganz überschauen kann. Zudem führen die Wege zu dieser Klinik hin an anderen, höheren Gebäuden vorbei, die den Blick auf die Urologie versperren, weshalb wir meinten, von Pontius zu Pilatus laufen zu müssen, als wir zu meinem Vorstellungstermin wollten, und prompt auch zu spät kamen. Aber das war nicht schlimm, vor mir warteten noch viele Patienten, und als uns nach gut zwei- oder dreistündiger Wartezeit ein Arzt endlich in eines der Sprechzimmer bat, waren wir von der ruhigen und gelassenen, aller Hektik enthobenen Aufmerksamkeit des jungen Mannes überrascht. Der hörte sich in aller Ruhe meine Geschichte an, betrachtete die CD-ROM aus der Tomographie gründlich, las den Bericht aus der Klinik für Diagnostik gewissenhaft und sah sich meine Nieren unter dem Sonographen genauestens an, und sagte dann zunächst nur: »Sagen Sie bitte Ihrem Arzt, der den Tumor entdeckt hat, einen schönen Gruß und alle Achtung, denn ich weiß nicht, ob man den hier so leicht gefunden hätte.«

Das wollte ich gerne tun, denn es bestärkte mich in meiner stillen Hoffnung, man könne die Sache doch noch eine Weile auf die lange Bank schieben. Als ich mich so ähnlich äußerte, schmunzelte der junge Arzt und erwiderte, ich solle lieber froh sein, dass der Tumor so früh entdeckt wurde, und sehen, dass ich ihn so schnell wie möglich los würde. Ich sollte bis nach den Ferien warten, dann sei der Chef wieder da, und für den wäre das genau das Richtige. Ob gut- oder bösartig, das ergäbe sich dann, wenn man den Tumor vor sich habe, und alle Spekulationen vorher seien letztlich unsinnig. Nachher begleitete er uns noch zur Sekretärin des Professors, die meine Personalien aufnahm, uns die schriftlichen Unterlagen zum Klinikaufenthalt übergab und mit uns einen OP-Termin in der ersten Woche nach den Sommerferien vereinbarte.

Ich will die Geschichte nicht unnötig verlängern, indem ich meine Ängste und trüben Gedanken in den Wochen bis zu diesem Termin hier ausbreite, möchte aber dennoch nicht verschweigen, dass sich mir in dieser Zeit Michael Ende bestätigte, der mit seinem Scheinriesen in Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer nicht nur für Kinder die reine Wahrheit beschrieben hat: In jenen Wochen habe auch ich den Scheinriesen Angst zuerst in gewaltig drohender Größe schemenhaft vor mir gesehen und musste mich wundern, dass er, je näher die Zeit mich an ihn heranschob, immer kleiner wurde, und zuletzt so zu sagen auf handhabbare Taschengröße schrumpfte.

Mit dieser Restangst fuhren Irmingard und ich dann in der Frühe des Aufnahmetages in die Mainzer Klinik, wo wir erst einmal warten mussten, bis dass Bett für mich frei wurde und ich mich neben einem frisch operierten Herrn etwa meines Alters einsortieren konnte. Dass es ihm augenscheinlich nicht schlecht ging, ließ mich Mut fassen und hielt den Angstriesen zurück, als der die Gelegenheit ergreifen und sich mopsig machen wollte. Und, die an diesem und dem folgenden Tage hinzunehmenden Untersuchungen taten ihr Übriges, bis zum Abend vor der Operation war mir eigentlich ganz wohl zu Mute.

Dazu trug auch wesentlich bei, dass mich Irmingard am Nachmittag besuchte,, dass sie alle Tage die lange Fahrt auf sich nahm und mich nicht einfach meiner Situation überließ, sondern ganz selbstverständlich, so lange wie möglich bei mir blieb und mit mir spazieren ging. Wir redeten nicht viel, weil allzu viele Worte unsere Liebe nur gestört hätten.

Doch dann, als sie gegangen war und ich nach dem Abendbrot an einem Flurfenster stand und einem heraufziehenden Gewitter zuschaute, überraschte mich die Frage, was ich hier eigentlich tat. Der Professor selbst, den ich bei seiner ersten Visite danach gefragt hatte, sagte mir es doch offen, was mich erwarte sei eine mittelschwere Operation, sowohl was deren Schwierigkeit für ihn als auch was ihre Belastung und das Gesamtrisiko für mich bedeute. Wäre es da nicht gescheiter, ich ginge zu Bahnhof und führe nach Hause und ließe den Tumor Tumor sein? Und sollte der eines Tages wirklich mein Wohlbefinden ernsthaft beeinträchtigen, könnte man dann nicht immer noch operieren? Oder, wenn das dann nicht mehr möglich wäre, gäbe es dann nicht Mittel und Wege, sich aus dem Leben davonzuschleichen? Zum Beispiel durch einen Sprung aus einem Fenster wie hier?

An diesem Punkt meiner Überlegungen scheuchte mich ein Krankenpfleger vom Fenster weg, lauthals schimpfend, was ich mir dabei dächte, bei Gewitter und Sturm unerlaubt Flurfenster zu öffnen. Und leicht gekränkt zog ich mich mein Zimmer zurück.

IV

Nach der Operation fühlte ich mich rasch wieder wohl. Zwar stellte sich die des Nachts wunderbar in Friedensreich Hundertwassers Farben leuchtende Märchenstadt am folgenden Morgen als die Nachtbeleuchtung des benachbarten Hauptgebäudes der Chirurgie mit seinen ausdruckslosen Fenstern heraus; aber dafür konnten mir auch die vielen kleinen postoperativen Quälereien des klinischen Alltags nichts anhaben. Als die reale Welt mich wieder einbezog, erschien auch der Professor, der mir verkündete, ein noch während der OP untersuchter Schnellschnitt habe den Tumor als gutartiges Adenom identifiziert; dazu könne er mir nur gratulieren.

Zur raschen Besserung meines Befindens trugen auch die Gespräche bei, die ich mit meinem Zimmergefährten führen konnte, einem Gärtner und Blumenhändler aus Wiesbaden, einem gütigen und sehr verständigen Menschen. Obwohl sich seine Situation und die meine in jeder Hinsicht völlig unterschieden, fanden wir doch schon bald eine Schicht tieferer Übereinstimmung, die ein solches Vertrauen erlaubte, das wir gemeinsam unserer beider Lebenswege einander mit Gewinn erzählten.

Am dritten oder vierten Tag nach der Operation hielt mich auf dem Gang jener junge Arzt an, der mich in der Ambulanz anlässlich der Anmeldung untersucht hatte, er müsse mir im Auftrag des Professors eine wichtige Mitteilung machen. Der Professor ließe mir sagen, dass eine genauere Untersuchung des bei der Operation entfernten Tumors in der Pathologie den ersten Befund nach dem Schnellschnitt in einem Punkt zu korrigieren zwinge. Diese habe nämlich ergeben, dass sich im Kern des Adenoms ein kleineres Nierenzellkarzinom gebildet hatte, das aber von gutartigem Gewebe ganz umgeben mit dem umschließenden Adenom vollständig entfernt worden sei. Wenn mir der Professor nach dem ersten Befund gratuliert habe, müsse man mir nach dem zweiten nun erst recht und doppelt gratulieren. Nach menschlichem Ermessen könne ich die Sache vergessen, was nicht heiße, dass ich nicht in einem halben Jahr noch zu einer tomographischen Nachuntersuchung gehen sollte.

Ich wundere mich noch heute, dass ich mir das ganz ungerührt anhören konnte. Als mich an diesem Nachmittag Lioba mit ihrer kleinen Paula besuchen kam, überrollten mich dann aber doch so starke innere Bewegungen, dass ich zwischen Tränen, Schluchzen und Lachen hin und her geschüttelt wurde. In diese Turbulenzen hinein reichte mir Paula ein zusammengerolltes und mit einem roten Wollfaden umwickeltes Zeichenblatt: »Opa«, sagte sie, »ich habe dir einen Schutzengel gemalt, weil ich mir gedacht habe, den könntest du sicher gut gebrauchen«. Und als ich den Faden aufgebunden, das große Blatt aufgerollt hatte und mich bedanken und ihre Künste loben wollte, schnitt sie mir das Wort ab: »Weißt du, auf Engels verstehe ich mich nämlich.«

00.00.0000 NH,2011