Christliche Vorurteile gegenüber dem Judentum

Abstract Zu diesem Vortrag wurde ich von Herrn Althaus eingeladen, weil ich in einer größeren Arbeit die Geschichte der Hadamarer Juden beschrieben und mich außerdem als langjähriger Leiter eines Bibelkreises mit der Religion des frühen Judentums befasst habe. Aber so interessant es sein mag, was einmal war, denke ich doch, es ist viel spannender und interessanter, darüber zu reden, wie man zu einem besseren Verständnis zwischen Juden und Christen kommen kann.

Abstract Gott und die Welt, wie der Titel Ihrer Veranstaltungsreihe lautet, haben wir abendländische Christen nur durch Vermittlung des Judentums kennengelernt. Unsere Wurzeln stecken so tief in jüdischem Denken und unsere Augen sehen die Welt so selbstverständlich mit jüdischen Augen, dass uns das so wenig bewusst wird, wie uns die Regeln unserer Muttersprache, denen wir einfach folgen, bewusst werden.

Abstract Es haben nämlich in den letzten Jahren eine Reihe von Entdeckungen zu einer neuen Einschätzung frühchristlicher Texte und Darstellungen geführt, die gleichzeitig ein neues Licht auf das Judentum wie auf viele Grundlagen unseres christlichen Denkens werfen. Wer sich mit diesen Erkenntnissen beschäftigt, wird vor allem eine Reihe von Missverständnissen und Vorurteilen kennenlernen, die zwischen Juden und Christen entstanden und bis heute bestehen, deren Auflösung die gegenseitige Toleranz unterstützen wird und ein besseres Verstehen beiderseits bewirken kann.

1 Das Judentum ist den Christen traditionell wenn überhaupt, so nur verzerrt bekannt

Was wissen wir schon vom Judentum, vom heutigen? Vom Judentum zur Zeit der Entstehung der Kirche? Wir kennen natürlich die fürchterlichen Ereignisse der Nazizeit, wir wissen etwas über koscheres Essen, über den einen oder anderen jüdischen Feiertag, wir kennen die eine oder andere Redweise, die ganz sicher auf jüdische Sitten zurückgeht, die vom »Sündenbock« oder die, »wo der Jud' begraben liegt«. Und wir meinen, das eine oder andere aus der Bibel zu kennen, dass die Juden das AT haben wie wir, dass sie tausenderlei Gesetze und Gebote haben, die Jesus Gott sei Dank abgeschafft hat, die Speisegesetze und die Sabbatvorschriften, und dass Jesus an einem jüdischen Osterfest ums Leben kam.

A Ich leite seit vielen Jahren einen Bibelkreis und wir haben uns in den letzten Jahren bemüht, das Neute Testament so zu lesen, wie das die Zeitgenossen seiner Verfassen taten. Das ist besonders spannend, wenn man das Mat-Ev liest, das nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Bar-Kochba-Aufstand 70 n. für Judenchristen geschrieben wurde. Und zur Illustrierung unserer Unkenntnis jüdischer und judenchristlicher Vorstellungen will ich drei wohlbekannte Fälle schildern, den ersten über einen Text im Matthäus-Evangelium.

Lesen wir den zunächst, ein Stück aus der Rede auf dem Berge - Mat 5:17-20. Das kennen wir alle und wir wissen auch, wie der Text weitergeht : Die nächsten Abschnitte scheinen jeweils mit einem absoluten Widerspruch zu dem Anfangstext zu beginnen : Vers 21, dann Vers 27, dann Vers 31, weiter 33, 38 und 43 - sie alle beginnen: Den Altvorderen wurde gesagt - und nun sage ich Euch ... Man hat diesen Text Jesu Antithesen zum jüdischen Gesetz genannt; man hat sie so interpretiert, als stelle sich Jesus gegen Mose, gegen das Gesetz, als überhebe er sich als autonomer Gesetzgeber des Neuen Bundes über die Gesetzgebung JHWH's am Sinai. Auch Benedikt XVI hat sich in seinem Jesusbuch dergestalt geäußert.

Die Übersetzung des Textes aus dem Griechischen entscheidet sich am Verständnis eines einzigen Wörtchens, nämlich des de = aber oder nun. Ein Satz, der so beginnt, steht entweder im Gegensatz zur vorherigen Aussage oder im Anschluss zu ihr, widerspricht ihr also oder zieht Folgerungen aus ihr. Nach dem Vorspann 17-20 kann eigentlich nur die zweite Übersetzung richtig sein, Jesus will sagen: Wie den Alten gesagt wurde, so sage ich euch heute ... Das alte Gesetz will ich neu auslegen, wie es Aufgabe der Rabbinen ist und war, wie viele vor mir getan und neben mir tun, wie es der eigentliche, der tiefere Sinn der mosaischen Gesetze war und bleibt ... Sechsmal wird die Tora, die Weisung des AT zitiert, und sechsmal fügt Jesus seine Auslegung an, verfeinert das Gesetz, vereinfacht die Regel, fasst den gebotenen Sachverhalt an der Wurzel, aus der heraus das allzu Schlimme entsteht: Nicht morden ... nicht übel reden, nicht beschimpfen, nicht mit Worten jemanden verletzen - denn damit fängt eine Entwicklung an, die bei Mord und Totschlag endet.

Und das ist der Befund der Sprachwissenschaftler: Der griechische Text gibt hier sechsmal die allgemein übliche hebräische Einleitungsformel zu einem biblischen Schriftzitat wieder: sch`en`emar (es ist gesagt worden) - darauf folgt die zitierte Stelle. Und daran fügt der Rabbi, hier Jesus, seine Auslegung an - die er mit: v`eani omer (und ich sage ...) beginnt. Dabei ist weder das ich betont, noch ein Gegensatz, sondern vielmehr eine Anknüpfung ausgedrückt. (So zuletzt Prof. Klaus Wengst in Bibel und Kirche, 1/2010, S. 31 f). Jesus interpretiert den streitigen Satz also nach dem Sinn des Gesetzes im Hinblick auf seine Zeit und deren Lebensumstände. Und das wird jeder bestätigen, der weiß, dass die Tora kein für immer festgeschriebenes Gesetz war und sein sollte, sondern von Anfang an der mündlichen Auslegung bedurfte, die immer je nach Lage der Dinge und Einstellung des Rabbi verschieden ausfiel und diskutiert wurde, und dadurch niemals zum toten Buchstaben wurde, sondern eine lebendige Weisung für das Leben bleiben sollte und blieb.

Bleibt die Frage, woher nehmen die vielen Übersetzer des Mat-Ev nur die Gewissheit, dass sie alle - bis auf ganz wenige Ausnahmen - meinen, Jesus im Gegensatz zur jüdischen Tora darstellen zu müssen? Und das, obgleich in der Einleitung der Rede auf dem Berge (17-20) aus Jesu Mund genau das Gegenteil von Widerspruch formuliert wird?

B Nun zu einem zweiten Text, auch er ist allen bekannt - das Gleichnis »Vom verlorenen Sohn«, das manche auch das »Vom gütigen Vater« nennen, bei Lukas 15:11-32. Dieses Gleichnis hat zwei Ebenen. Auf der ersten erzählt Jesus von einem jungen Mann, der aus der Autoritätssphäre seines Vaters ausbricht, eine Erbteilung im Voraus fordert und mit seinem Anteil abhaut. Es kommt wie es kommen muss, er landet letztlich unter den Säuen. So heruntergekommen erinnert er sich, dass es selbst der minderste Sklave im Hause seines Vaters besser hat, als er, und reuig will er ins Elternhaus zurückkehren, und wäre froh, wenn ihn sein Vater wie einen Sklaven aufnehmen und einstellen würde. Aber der Vater sieht ihn von schon weitem kommen, freut sich ihn wiederzusehen, geht ihm entgegen, schließt ihn in seine Arme und befiehlt einen Sklaven, ihn mit dem besten Kleid und dem schönsten Schmuck herzurichten und für alle ein großes Wiedersehensfest zu bereiten.

Sie kennen diese rührenden Erzählungen alle, die Jesus erzählte, um das gute Herz Gottes darzustellen, der - wie in der jüdischen Geschichte oftmals geschehen - immer wieder dem törichten und irrenden Menschen, wenn er denn zur Besinnung kommt und reuig umkehrt, nicht nur großzügig verzeiht, sondern ihn mit Wohltaten zu überschütten sucht. Ganz anders als der orientalische Patriarch reagiert der Vater im Gleichnis; nein, Jesu Gott muss nicht als Vater seine gekränkte Autorität mit Unversöhnlichkeit verteidigen, den Verlorenen verstoßen, wenn nicht gar vernichten. So kennen wir die Geschichte.

Nur ist das weder die ganze Geschichte noch genau das von Jesus Erzählte. Denn der junge Mann zieht nach dem genauen Text in ein fernes Land, in dem man Schweine züchtet, also ins Heidentum, denn Juden meiden Schweinefleisch. Er verlässt also nicht nur seine Heimat, er verlässt das Land seiner Väter und Kultur und Religion, um in Saus und Braus zu leben - und trotzdem schaut der Vater offenbar sehnsüchtig in die Ferne nach ihm aus, und als er ihn von weitem heimkehren sieht, läuft er ihm entgegen, fällt er ihm um den Hals und küsst ihn ab - so sehr hat er sich Sorgen um ihn gemacht, der liebevolle Papa. Was den Menschen angeht, an ihm hat Gott nämlich einen Narren gefressen und macht sich um seinetwillen geradezu lächerlich.

Das also ist die wahre erste Ebene, und die ist gut jüdisch, und das Erste Testament hat an vielen Stellen einen zürnenden Gott, der dreinschlägt wie der germanische Wotan, was alle wissen. Aber es hat auch viele Stellen, besonders auch in den Psalmen, wo Gott geschildert wird, wie Jesus es hier tut - aber es dennoch nicht dabei belässt. Denn auf der zweiten Ebene kommt der ältere Bruder des Verlorenen vom Feld zurück, hört von weitem Musik und Tanz und muss von einem Sklaven erfahren, dass sein Bruder heimgekehrt ist. Und der Vater, weil er ihn gesund wiederhat, das (eine!) Mastkalb hat schlachten lassun und nun ein Fest gibt. Schnaubend vor Wut weigert er sich den Hof zu betreten; der Vater aber geht zu ihm hinaus und bittet ihn nachdrücklich einzutreten. Da stellt er seinen Vater zur Rede und macht ihm bittere Vorwürfe: Er hat seinen Erbteil beim väterlichen Gut belassen, er hat ihn unterstützt und für ihr aller Wohl gesorgt, er hat sich stets an Vaters Gebote gehalten - so viele Jahre lang. Aber niemals hat ihm der Vater, damit er mit seinen Freunden einmal hätte feiern können, auch nur ein Böcklein gegeben. Doch kaum kommt dein Sohn, der deinen Besitz mit Dirnen aufgefressen hat, wieder heim, schon schlachtest du ihm das Mastkalb!

Verständlich, sagen wir. Wer würde da nicht auch explodieren? - Aber Jesus lässt den Vater die Ruhe bewahren und ihm entgegnen: Schau mal, du bist allezeit bei mir und alle Meine ist auch dein; feiern aber und sich freuen muss man doch, denn dieser dein Bruder war tot und fand ins Leben zurück, war verloren und fand sich wieder. Jesus lehrt auf zweiter, höherer Ebene, dass Gott größer ist als eine glatte 1:1-Gerechtigkeit, die Gutes mit Gutem vergilt und Böses mit Strafen ahndet, auch größer als großzügiges »Gnade vor Recht ergehen lassen« - Er liebt. Er liebt den Gerechten, der seine Freude an eifriger Pflichterfüllung hat. Er liebt aber auch und sorgt sich deshalb um den Verlorenen, und macht sich um seinetwillen zum Narren. Menschen sind gewöhnlich nicht so.

Man hat das Gleichnis - um es es aufs Überpersönliche auszulegen - wiederholt auf das Verhältnis des Judentums zur christlichen Kirche angewandt. Und dies zwar gewöhnlich so, dass man den älteren Bruder mit dem Judentum gleich setzte und den jüngeren mit den (Heiden-)Christen. Die Herder-Ausgabe der Einheitsübersetzung kommentiert:

Der barmherzigen, überwältigende Freude schenkenden Haltung des Vaters, Sinnbild der Barmherzigkeit Gottes, steht im älteren Sohn die Haltung der Pharisäer und Schriftgelehrten gegenüber, die sich für 'gerecht' halten, da sie niemals ein Gebot des Gesetzes übertreten.

Das Wort 'Gebot' hat da wohl die Gedankenverbindung mit den 'Pharisäern und Schriftgelehrten' ausgelöst. Aber dann erinnert logischerweise der unter die Säue Geratene an die moralisch minderwertigen Christen - was natürlich beides so nicht gemeint sein konnte. Und wir müssen hier wie schon vorher doch fragen, woher das in vielem nicht zutreffende Zerrbild von den hartherzigen supergerechten Pharisäern und Schriftgelehrten stammt?

C Eine dritte Beobachtung: Im Gottesdienst am Karfreitag wird seit Jahrhunderten ein Klagelied gesungen, die Improperien (von lat. impropero = ich mache Vorwürfe) genannten «Heilands- klagen». Sie sind Teil der eindrucksvollen Kreuzverehrung, zu der ein Kreuz auf die Stufen des Altars gelegt wird, zu dem in einer Prozession die anwesenden Gläubigen hinzutreten und das Kreuz mit einem Kuss verehren. Dazu singen zwei Vorsänger und zwei Chorgruppen abwechselnd in griechischen und lateinischen Versen nach gregorianischen Weisen

Heiliger Gott! Heiliger Starker! Heiliger Unsterblicher, erbarme Dich unser !

Sodann folgen die einzelnen Strophen des Improperiums, von zwei Vorsängern abwechselnd vorgetragen, und dazwischen jeweils abwechselnd von den Chorgruppen die schon erwähnten Gottesanrufungen. Die einzelnen Improperien lauten:

Mein Volk, was tat ich Dir? Oder worin betrübte ich dich? Antworte mir!

Ich führte dich aus Ägypten heraus, nachdem der Pharao im Roten Meer ertrank - und du, du übergabst den Hohen Priestern mich.

Ich öffnete vor dir das Meer - und du, du öffnetest mit einer Lanze die Seite mir.

Ich ging vor dir her in der Wolkensäule - und du, du führtest mich zu des Pilatus Gericht.

Ich weidete dich mit Manna durch die Wüste - und du, du schlugst mir ins Gesicht und geißeltest mich.

Ich tränkte dich Heilwasser aus dem Felsen - und du, du tränktest mich mit Galle und Essig.

Ich zerschlug wegen dir die Könige der Kananaäer - und du, du zerschlugst mit dem Rohr mein Haupt.

Ich gab dir das königliche Szepter - und du, du gabst mir aufs Haupt die Dornenkrone.

Ich habe dich erhöht mit großer Macht - und du, du hast mich erhöht am Kreuzesgalgen.

Und wieder müssen wir fragen: Woher stammt diese ungeheuerliche Gewissheit, mit der allen Generationen einer Religion durch zwei Jahrtausende hin unbesehen Vorwürfe aufs Haupt geschlagen werden, die sich bei näherem Hinsehen als durchweg haltlos erweisen? Nur weil eine von vier Fassungen der Leidensgeschichte Jesu dessen römischen Richter sich entschuldigend vor der Volksmenge sagen lässt: «Unschuldig bin ich an diesem Blut; seht ihr zu! Und antwortend sprach das ganze Volk: Sein Blut über uns und unsere Kinder!» (Mat 27:24 f) ? Einer von vieren, selbst kein Augenzeuge: Das kann doch nicht wahr sein!

D Versuchen wir den Ursachen auf den Grund zu gehen, die dazu geführt haben, dass in so vielen Fällen von Menschen, die sich gewiss nichts Böses dabei dachten oder denken, Vorurteile nicht nur übernommen - sondern bedenkenlos ausgeführt werden. Fangen wir, wenn es recht ist, mit der Karfreitagsliturgie an. Die Bischöfe haben sie bis heute nicht entfernt, und das auch nicht nach dem letzten Konzil, das in seiner Konstition »Nostra Aetate« 1965 mit leidenschaftlichem Ernst vortrug:

(4) Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode ... Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben (vgl. Joh 19:6), kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes, trotzdem darf man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.

Genau das aber geschieht in den Klagetexten, die zur Karfreitagsliturgie gehören, immer noch - und keiner merkt es. Dabei verwechselt und verdreht der gesungene Text alles: Am Anfang jeden Satzes erinnert Gott selbst (Ich führte...; Ich öffnete ...) an die Wohltaten, die er Israel erwies. Im zweiten Teil der Sätze hält das gleiche Ich dem gleichen Volk die Folterungen Jesu vor (und du, du ...), und zwar so, als sei nicht Jesus sondern Gott gefoltert worden (geißeltest mich). Poetisch ist das natürlich von größter Wirkung, wenn Gott selbst sagt, wer einen Menschen martert, martert Gott, sich Gott also mit dem Martyrer solidarisiert. Nur stimmen die Sätze in ihrem Mittelteil nicht, denn die sagenhaften göttlichen Wohltaten, von denen die Bibel spricht, wurden einer kleinen Volksgruppe anderthalb Tausend Jahre vor Christus zuteil, und die Vorwürfe betreffen eine Staatsaffäre im Jerusalem der Zeitenwende unter römischer Vorherrschaft, bei der ein erfolgreicher Reformator der jüdischen Religion von romabhängigen Obrigkeiten des Provinzteiles Syriens namens Judäa als Aufrührer dem römischen Statthalter zugespielt wurde, der ihn verurteilte und durch seine Militärschergen - die keine Juden waren - auf römische Art exekutieren ließ. Die kann man aber nicht einem ganzen Volk und schon gar nicht den von ihm abstammenden Generationen und erst recht nicht allen sich zum Judentum Bekennenden zum Vorwurf machen.

Besonders perfide ist natürlich der Vorwurf des Gottesmordes, der den Gipfel der antijüdischen Polemik darstellt. Wer ein bisschen nachdenkt, kann so etwas leicht durchschauen, denn einen Gott kann man nicht töten. Schon die Antike sprach von den unsterblichen Göttern, und es gehört eben zum Inbegriff Gottes, dass er nicht sterblich ist. Übrigens ist ein Menschenmord schon verwerflich genug. Aber nicht einmal den warf das ganz frühe Christentum einheitlich den an der Tötung Jesu Beteiligten vor, sonst hätte man nicht in das Luksaevangelium Jesu Gebet für seine Henker eingefügt: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. (Luk 23:34) Daneben stehen freilich die Vorwürfe des Petrus gegen »Jerusalem«, das schon traditionell seine Propheten hinmorde und im Falle Jesu

Aus dem Ende des 2. nachchristlichen Jahrhunderts nun (um 160 n.) hat sich 1940 eine Osterpredigt des Bischofs Melito von Sardis (Lydien, Türkei) gefunden, in der ähnlich wie in den Improperien die Heilstaten Gottes am jüdischen Volk aufgezählt werden, und diesen Heilstaten Einzelheiten der Passion Jesu gegenübergestellt werden. In diesem Zusammenhang kommt erstmals der Vorwurf des Gottesmordes vor, indem Melito mit den erschreckenden Sätzen endet:

»...Höret mit Zittern um wessentwillen die Erde erzitterte: Der die Erde aufhing, ist aufgehängt wordern. Der den Himmel festmachte, ist festgemacht worden. Der das All festigte, ist am Holze befestigt worden. Der Herr - ist geschmäht worden. Der Gott - ist getötet worden. Der König Israels - ist beseitigt worden von Israels Hand. ... Den Herrn hast du verlassen, du hast kein Erbarmen bei ihm gefunden; den Herrn hast du zugrundegerichtet, gründlich bist du zugrundegerichtet worden: Und jetzt liegst du tot darnieder.»

Dieser »Tod Israels« als Strafe für die Hinrichung Jesu entspricht einem antiken und damit einem historisch-jüdischen Denkmuster, dass nämlich für Katastrophen das Fehlverhalten der Menschen verantwortlich sei, weil Gott / die Götter Sünde als Schuld der Menschen rächten. Das Melito von Sardis mit seiner Osterpredigt aber nicht nur allgemein antikem Denken verhaftet ist, sondern ganz speziell in Formen der jüdischen Religion verfährt, zeigt eine andere Beobachtung. Seine Osterpredigt folgt in der zitierten Passage einer in der Bibel öfter zu lesenden literarischen Form, nämlich der prophetischen vorwurfsvollen Bußpredigt. Vor dem Hintergrund der drohenden Strafe predigen Propheten des öfteren ihren Zuhörern Umkehr, indem sie ihnen sprachlich zugeschliffen Gottes Wohltaten im Gegensatz zu ihrem diesen Wohltaten widersprechenden Fehlverhalten vorhalten. Aber sie reden ihren eigenen Volks- und Religionsgenosssen ins Gewissen und wollen die eigene Umkehr erreichen, um ein drohendes Strafgericht zu vermeiden. Wer dazu Beispiele lesen will, schlage Nehemia 9:6-37 auf, einen jüdischen Buß-und-Bettag, der aber in eine Erneuerung des mosaischen Bundes mit Gott endet. Hier steht am Ende die Versöhnung mit Gottes Gebot und Heil.

Ganz anders Melito: Als er schrieb, warf er gläubigen Juden Gottesmord vor, Juden denen 90 Jahre vorher Jerusalem zerstört und 30 Jahre zuvor die staatliche Restselbständigkeit Judäas durch die Römer endgültig genommen worden war. Und nun rechnet Melito den Juden seiner Zeit vor, was ihre Vorfahren falsch gemacht haben und warum es ihnen gegenwärtig schlecht gehe. Soweit gehen die liturgischen Klagelieder nicht, aber sie schreiben Juden immerhin Untaten zu, die weder sie noch ihre wirklichen Vorfahren begangen haben. Heute sagt man: antisemitistisch; besser wäre: unmenschlich.

2 Vorurteilen auf den Grund zu gehen löst sie auf wie Luftblasen

E An den Portalen mittelalterlicher Kathedralen - so etwa in Bamberg - kann man Darstellungen der Heilsgeschichte sehen, bei denen die Apostel auf den Schultern der Propheten und Großen des Judentums stehen. Natürlich liest jeder eine solche Darstellung verschieden: Der Antijudaist sieht eine Überwindung des Judentums durch die Frühe Kirche dagestellt; ein Traditionalist erkennt die Darstellung als Lobpreis der getreuen Überlieferung und Weitergabe früherer religiöser Erfahrungen; ein Dogmatiker freut sich über diese Bilder als Bestätigung ewig fortwährender Wahrheit; ein Jude wird wohl zuerst die Last dargestellt finden, mit der die Christen seit mehr als 1000 Jahren auf die Juden drücken.

Ich erwähne die Bamberger Darstellungen, um die unterschiedliche ausfallenden Reaktionen der Menschen auf das gleiche Ereignis, auf die gleichen Vorgänge zu illustrieren. Je nach eigenem Standpunkt, Herkommen, Interesse, nach Beeinflussbarkeit und Bildungsstand reagieren die Menschen unterschiedlich auf das gleiche Vorkommnis. Dabei spielen Vorurteile eine wichtige Rolle, Vorurteile, die oft ganz unbewusste oder unterbewusst bleibende Ursachen haben.

Dabei spielen leider Traditionen eine oftmals entscheidende Rolle. Melito hat traditionelle Elemente prophetischer Rede aus den heiligen Schriften des Judentums benutzt, weil diese bewährten Darstellungsmittel ihm besonders wirkungsvoll erschienen, um bei seinen Zuhörern und Lesern missionarisch anzukommen. Dass er diese bewährte Predigtform mit unwahren Behauptungen besetzte, hat diese geradezu hetzerischen Zwecken dienstbar gemacht. Wir wissen nicht, ob Melito der Erfinder dieser Giftmischung war oder nur durch den Zufall einmaliger Überlieferung als solcher dasteht; wir wissen aber, dass sich seine Osterpredigt weiter verbreitete, um 312 erwähnt sie in Konstantinopel Eusebius in seiner Kirchengeschichte, so dass sie bis heute in der römisch- katholischen Karfreitagsliturgie fortleben konnte. Und dass ein hohes Alter ihre unbesehene Weiterbenutzung bewirkte, ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die fatale Wirkungsgeschichte traditioneller Vorurteile.

F Zu den traditionellen Vorurteilen gehört auch die verächtliche Redeweise, mit der man hierzulande einen Supergerechtigkeit vorheuchelnden Frömmler enttarnt, indem man ihn als »Pharisäer« bezeichnet. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn man an den deutschen Küsten eine Tasse mit einem Schuss Schnaps, bedeckt durch etwas Kaffe und einem Häubchen Sahne einen »Pharisäer« nennt. Beides kein harmloser Spaß, sondern eine - wenn auch unbewusste und nicht beabsichtigte - Verunglimpfung einer der bedeutendsten Widerstandsgruppen der Geschichte, die sich durch äußerste Aufrichtigkeit in Wort und Taten ausgezeichnet hat, also wirklich Unrecht.

Denn die religiös-politische Gruppierung der Jesus-Zeit, der wir unter diesem Namen in den Evangelien begegnen, stammt von einer Widerstandsbewegung ab, die von etwa 200 v.Chr. an das Regime der Hasmonäer über Israel als Fremdherrschaft konsequent ablehnte und bekämpfte. Zur Zeit der Makkabäer nannten sie sich »Chassidim«(die Frommen), später »Perushim«(die Abgesonderten). Sie stellten die allergrößte Mehrzahl der Rabbinen und Schriftgelehrten, oftmals Vorsteher von Synagogen und die eigentlichen Träger der jüdischen Kultur im Alltag und von großem Einfluss auf die so genannten Kleinen Leute.

Ihre Gegenspieler waren vor allem die mit dem Königshaus der Hasmonäer kooperierenden Sadduzäer (von Zadok=Priester), die die Jerusalemer Hochpriester stellten und als Oberschicht die Macht in Händen hielten. Erst um 70 v. leitete Salome Alexandra als Königinwitwe eine Reform ein, in deren Verlauf der Sanhedrin (Hohe Rat) weitgehend mit Pharisäern besetzt wurde. Sie waren, als ab 63 v. Palästina mehr und mehr unter römische Herrschaft kam, erbitterte Gegner der Besatzer, während sich nun die Sadduzäer und Priesterkaste weitgehend den Römern anpassten; dafür wurden die einen natürlich verfolgt und die anderen mit Ämtern und Ehren geködert und korrumpiert. Die in der Römerzeit herrschenden Fürsten und Könige sind großenteils keine Juden und durchweg Geschöpfe der Römer.

Die ältesten Schichten der Evangelien reden deshalb auch respektvoll bis neutral von den Pharisäern, deren Lehren - also die der pharisäischen Schriftgelehrten und Rabbinen - Jesus ausdrücklich lobt. Nikodemus, Gamaliel - sein Schüler war Saulus und rühmte sich dessen auch als Paulus noch - und Joseph von Arimathia waren Pharisäer. Die Lehren der Pharisäer, ihre Gesetzessammlungen und Diskssionen, wie sie die Mischna und der Talmud wiedergegeben, stehen in ihrer Zeit auf höchstem Niveau, und geben von einem gut geordneten Rechtswesen Zeugnis. Und es sind auch die bedeutendsten Vertreter der Pharisäer, die nach den Katastrophen der beiden Aufstände gegen die Römer und nach der Zerstörung Jerusalems in Jabne (Jamnia) erneut eine jüdisch Akademie zur Ausbildung von Rabbinen gründen und dort erneut einen Sanhedrin einrichten.

Auch die Sitten und Lebensweise der Pharisäer, die Flavius Josephus (38-100n.) wiederholt beschrieb und in den höchsten Tönen lobte, rechtfertigen eine allgemien ablehnende Haltung den Pharisäern gegenüber nicht. Wir müssen also fragen, woher die vielfach negativen Äußerungen der Evangelien über sie stammen. Dazu müssen die Zeitumstände in Betracht gezogen werden: Die Evangelien entstehen - wenn sie auch älteres Erzählmaterial verwenden - in den Jahrzehnten von 6o bis etwa 120. In dieser Zeit sind ganz allgemein die Juden - und die Pharisäer als deren charakteristische Vertreter - einerseits, und sich nach und nach aus den Synagogengemeinden lösende Judenchristen und erste Heidenchristengemeinden bereits in zunehmender Konkurrenz, ja sich mehr und mehr verfeindend auseinandergerückt. Und das in einer Zeit heftigster politischer Konflikte, Aufstände und der Zerstörung Jerusalems und des Tempels. Man muss also genau hinschauen, wer wo, wem und was zuschreibt. Sind das Gegenpositionen in Diskussionen, sind das Beschuldigungen, und wenn ja, inwiefern berechtigte? Sind das gegnerische oder feindliche Äußerungen? Bezeichnet das gr. Wort ioudaios einen Bewohner der Region Judäa, oder einen Angehörigen der mosaischen Religion, oder einen Parteigänger der Jerusalemer Behörden, oder einen 'konservativen' Synagogenangehörigen, der von einem 'moderneren' Christusanhänger in der gleichen Synagoge unterschieden werden soll? Oder schlägt da - wie an einigen späten Stellen des Johannesevangeliums - nach dem Ausschluss der judenchristlichen '«Sektierer« aus den Synagogen die Verbitterung in Feindschaft um?

F Die Apostelgeschichte berichtet aus dieser Zeit von zunehmenden Verfolgungen von Jesusanhängern und der Jerusalemer Gemeinde, und der schon ewähnte Josephus hat nicht nur die zwei bekannten Geschichtswerke über die jüdischen Altertümer und den jüdischen Krieg gegen Rom geschrieben, sondern sich zur gleichen Zeit auch in einem weiteren Werk (Contra Apionem) mit dem Antijudaismus seiner Zeit auseinandergesetzt. Er beschreibt darin die antijüdische Einstellung der gebildeten Schicht seiner Zeit und diskutiert ihm begegnende Vorurteile, indem er die Eigenarten jüdischer Kultur ausführlich darstellt und so den Gegnern des Judentums den Wind aus den Segeln nimmt. Wer also beides, die nationale Katastrophe in Judäa und eine allgemeine Judenfeindschaft der Gebildeten einberechnet, dazu die offene Verfolgung der Jesusanhänger, wird nicht jedes Wort in den Evangelien auf die Goldwage legen wollen.

Das erklärt, aber entschuldigt nicht die vielfach grob antijüdischen Texte und Aktionen gewisser Kirchenkreise, die schon unmittelbar nach der Zeit der Apostel und ihrer Schüler zu beobachten sind. Da vertrat ab 139n. Markion, um 85 n. geborener Sohn eines reichen Reeders und Bischofs in Sinope am Pontus, ein gnostische Christentum, aus dem er alle jüdischen = alttestamentlichen Elemente eliminierte, weshalb ihn sein Vater aus der Kirche ausschloss und er selbst eine neue Kirche gründete (Markioniten), die bis ins 6. Jh. fortbestehen sollte, als ihre Reste sich dem Manichäern anschlossen. Markion unterschied den Schöpfergott als »bösen Gott des Gesetzes« vom »guten Gott und Vater Jesu Christi«. Deshalb verwarf er alle biblischen Schriften bis auf ein 'gereinigtes' Lukasevangelium und zehn paulinische Briefe, aus denen er alle jüdischen Elemente entfernt hatte.

Sein Markionismus bedrohte zeitweilig in bestimmten Regionen die Existenz der Kirche, und hatte natürlich auch Einfluss auf das frühkirchliche Denken. In den Schriften der Kirchenväter finden sich immer wieder Stellen, an denen markionitisches Gedankengut durchschimmert. Fast alle Kirchenväter aber wehren immer wieder angeblich jüdische Gedanken und Vorstellungen ab, die eine nüchterne Forschung nicht als Allgemeingut oder Grundauffassung des Judentums erkennt. Gewiss lassen sich in den heiligen Schriften immer Zitate für die indiskriminierten Auffassungen ausfindig machen; jedoch handelt es sich dann gewöhnlich um aus dem Zusammenhang gerissene Textstücke oder um Meinungen, die an anderer Stelle im Ersten Testament in Frage gestellt oder abgelehnt werden, wie überhaupt der Diskussionscharakter der Bibel bei uns so gut wie unbekannt blieb.

Das also ist die Erklärung für Fehlauslegungen und Fehlübersetzungen, wie sie im ersten Beispiel an einem Stück aus der Bergpredigt gezeigt wurden. Wenn ich von der Voraussetzung ausgehe, dass das Erste Testament von dem Neuen überholt und dass das Alte einen 'Gesetzesgott' verkünde, der durch Jesu 'Vatergott' überwunden wurde, muss ich Jesus entsprechende Absichten unterlegen und seine Worte entsprechend übersetzen. Wir haben also einen verdeckten Markionismus noch immer in der Kirche und ihren Verkündigung am Werk, obgleich offiziell diese Gedanken längst zu Irrlehren erklärt und als solche abgelehnt wurden.

Das Anliegen des Evangelisten Matthäus war es ja, Juden für die messianische Jesusbewegung zu gewinnen und Judenchristen in ihrer Haltung zu bestärken. Deshalb hebt Matthäus bestimmte jüdische Traditionen, die Jesus als Grundlagen seiner Erneuerung bewahrte, hervor, während er andere, von Jesus kritisierte zurücksstuft. Was das Gesetz angeht, also die Tora, wollte Jesus sie bis aufs I-Tüpfelchen beachtet wissen, was nicht heißt, buchstabengetreu, sondern bis in die feinste Verästelung ihres Sinnes, und das hat er in seinen Beispielen in der Bergpredigt deutlich gemacht.

Zum zweiten Beispiel: Auch in der Rezeption des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und dem liebenden Vater haben wir willkürliche, von Vorurteilen ausgelöste Deutungen festgestellt. Gerade unter den mit Gewalttaten einhergehenden Umwälzungen zur Zeit Jesu und erst recht während der Niederschrift der Evangelien kommt der Stimme des pazifistischen Lukas besonderes Gewicht zu. Wenn der Bruder verrückt spielte, wenn er alle enttäuschte und sich der Vernunft und seinen Pflichten entzog - so reagiert Liebe auf seine Rückkehr anders als kleinkarierte Gerechtigkeit. Und das ist nicht unjüdisch, sondern in vielen Erzählungen des ersten Testamentes wird eine Schuld nicht bis ins Letzte aufgerechnet, sondern durch Großzügigkeit und Liebe aus der Welt geschafft. So gab es - einmalig in der Antike - im Judentum einen Schuldverfall alle 7 Jahre ein Sabbatjahr, in dem aus Gründen sozialer Gleichstellung zu Gunssten der Armen die Äcker ungeerntet und unbebaut blieben, die israelischen Schuldsklaven freizulassen und ungetilgte Darlehen aufzulassen waren.(Exo 21;Dtn 15:15)

3 Zum Schluss noch eine Kurze Anmerkung

G Im Bamberger Dom steht an einer Säule eine Frauenfigur mit verbundenen Augen. Dargestellt ist damit die Synagoge, in der Bedeutung, das Judentum habe mit Blindheit geschlagen das Christentum nicht sehen und anerkennen wollen. Daran mag einiges richtig sein, aber dass ihr eine strahlende Ecclesia gegenüberstehe, wie im Bamberger Dom gleichfalls dargestellt, ist bei nüchterner Betrachtung eitles Wunschdenken. Jesu Gleichnis vom Splitter im Auge des Nächsten und Balken im eigenen gefällt mir da schon besser. Jedenfalls halte ich christliche wie jüdische Vorurteile für solche Balken in unseren Augen, oder besser gesagt, für geistige Burkas mit Sonnenbrillen.