PETER PAUL SCHWEITZER

 

 

 

 

 

 

 

T A G E B U C H G E D I C H T E

 

A U S V I E R Z I G J A H R E N

 

 

 

 

 

 

 

 

FÜR IRMINGARD

 

 

 

 

 

 

Hadamar

2013

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

da ich mich entschließe

immer wieder zu schreiben

sage ich mir

mit allem ernst:

aber nur

wenn nicht ich

die letzte zeile schreibe

sondern ein anderer

sich seinen reim

darauf macht

 

 

P O L N I S C H E R E I S E T A F E L

 

Von 1975 an waren wir fast jedes jahr einmal, in manchen sogar mehrmals in Polen; ausgehend von Irmingards heimat, dem Groß-Peterwitz in Oberschlesien versuchten wir nach und nach land und leute dieser kulturell reichen, damals materiell notleidenden nation kennen zu lernen. hier zunächst einige der auf diesen reisen entstandenen gedichte aus meiner „POLNISCHEN REISETAFEL“, deren erstes mir das interesse der in Warszawa erscheinenden Monatsschrift ‘POLEN’und uns die freundschaft mit ihrem chefredakteur Ryszard Wasita und seiner frau Sophia gewann, eine freundschaft, die uns über fast drei jahrzehnte in tiefer herzlichkeit verband.

 

die ‘POLEN’ druckte diese verse in internationalen ausgaben. als Felizitas und ich einige jahre später in Ryszards pfarrkirche den überfüllten sonntagsgottes-dienst besuchten, überraschten uns Lukas, der pfarrer, und Ryszard damit, dass wir nichts ahnend plötzlich vor die gemeinde gerufen und dieser als die leute vorgestellt wurden, die eine reihe von paketen mit kinderschuhen aus Deutschland geschickt hätten, an denen es dort damals so katastrophal mangelte. als pfarrer Lukas schon enden wollte, zog Ryszard dieses Gedicht aus der Tasche und las es polnisch der gemeinde vor und drängte mich, der ich perplex und beschämt dabeistand, dazu, es auch deutsch vorzulesen. als wir wieder auf unsere plätze gingen, war es sehr lange ganz still in dem großen gotteshaus.

 

DURCH DIESES LAND

 

Durch dieses land

kann ich nicht wie durch andre gehn :

 

wie in meinen schwersten träumen

kleben blutgetränkte schollen

an den füßen

gehen dumpfe schritte unterm boden mit.

 

marschtritte schwarzer stiefel

klatschen übers kopfsteinpflaster

schlagen an die türen in den alten gassen

stampfen von den feldern durch die dörfer.

 

noch peitschen die winde ihr echo

von ost nach west und west nach ost.

noch steht bei jedem regen

wasser in den tiefen spuren

noch färbt der schnee sich winters

in den stapfen rot.

 

durch dieses land

kann ich nur barfuß gehn

und still.

 

 

schlesisches himmelreich

 

Mit den wolken möcht ich ziehen

mit dem westwind, mit dem regen

in die heimat zu dem kinde

das ich war.

 

über tränen, über gräber.

über grenzen, immer weiter

zu dem duft des alten gartens

muß ich hin.

 

rückwärts gehen uhren niemals,

niemals fließt ein strom bergauf - und

eitlen träumen wehrt des flammen-

engels schwert

 

nüchtern find ich menschen : freunde,

schwestern, brüder ; reicht man mir die

hände, küßt mich, sitzt mit mir bei

brot und wein.

 

 

 

beim ersten besuch des zerstörten schlosses Łubowice,

in dem Joseph von Eichendorff aufwuchs

 

 

Łubowice

 

An der Oder grünen weiden,

und von ihren alten stämmen

hängt der bast bis in den fluß.

 

in den fenstern wächst holunder

aus den kellern brechen eschen

und die mauern stürzen ein.

 

doch die dunklen wipfel rauschen

und der wind geht durch die felder

wie in alter, schöner zeit;

 

raunen noch in frommen liedern

tröstung zu und deuten mir im

erdgeruch den himmelsglanz.

 

an der Odra grünen weiden,

auch von ihren jungen stämmen

hängt schon bast bis in den fluß.

 

 

Auschwitz und Birkenau

 

I

Geh hin

sieh Dir Auschwitz an

und Birkenau

und zwinge Dich

ganz ganz langsam zu gehn.

 

Geh in den todesblock

dort in den keller,

geh an die schwarze wand,

geh die lagerstraße hin

und her

geh in die gaskammer

hinein

und stell

DICH

an die rampe !

 

Auschwitz und Birkenau :

hier blickst Du in das wahre

antltz des menschen.

auf Dantes spur

betrittst Du hier

den zwölften kreis der hölle.

II

 

Immer noch -

immer wieder

Auschwitz :

 

Roma

tragen rote nellken

an die schwarze wand

 

sie weinen

 

bald schon

stehn die blumen

welken hauptes

da.

 

III

 

Nach Auschwitz

sind gesetzlos alle gesetze,

alle lieder reimlos ohne klang,

wortlos alle worte -

bis auf dieses :

 

selig seid Ihr,

wenn Ihr ein kind lehrt,

einem anderen kinde die hände zu reichen,

beide hände;

denn Euch wird der friede verheißen,

den die welt nicht geben kann.

 

Majdanek

 

Auf dem parkplatz

vor dem lager

gehen die raben

unruhig auf und ab.

 

ihre schnäbel

meißeln abfall,

zerfetzen blumen,

schleudern papier umher.

 

immer warten

todesvögel,

lauern auf beute

gieren nach krieg und mord

 

töten an einem tag

s i e b z e h n t a u s e n d

und nennen das grinsend

erntedankfest

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jasna Góra

 

Die schwarze madonna lächelt nicht.

wissend - ja traurig blickt sie voraus

selbst eine mutter wendet sie ihr

vernarbtes gesicht zum polenvolk:

krücken der kriegsversehrten armeen,

tränenperlen der mütter rings,

verteilt sie das dunkle brot geduld

tröstet die friedenstifter mit wein -

heimat der zukunft

 

ich bringe dir ein ave

meines alten doktors

du wüßtest schon bescheid,

und, bitte,

denk auch an mich

deinen geringsten

verlorenen sohn.

Abendlandwanderung

 

Mit ruhigen schritten gehen wir

über die sanften hänge von Kasimierz.

der feine löß schmeichelt den sohlen

und fruchtbarkeit quillt aus den feldern.

 

so atmen wir freies ferienglück

saugen an farben uns überschwänglich voll,

am klarsten blau, an ocker und umbra,

wie maler, wie dichter, wie tänzer.

 

dann plaudernd und lachend ins tal hinab !

über verschwiegenen weg im gehölz

erreichen wir weiden, dann heide,

und blicken hinaus auf die Weichsel.

 

der abend erfüllt schon luft und fluß

fährmann und fischer stehen wie schatten still.

kein laut - kein hauch - selbst die zwei frauen

die uferholz sammeln verschweben.

 

und sonne durchglüht den dunkelnden fluß

schweißt fluten und wellen zu rotem stahl.

wir taumeln entlang und sinken hinein

in den blutigen strom der gewalten.

G E D I C H T E A U S 1 9 8 1

 

Dezember in Maciejowice 1981

 

Nun ist die Weichsel doch erstarrt.

all die weiden sind geborsten

und das schilfrohr ist geknickt

stiefel stampfen drüber hin.

 

stählerne reußen ausgespannt

längs der ufer, durch die fluten

allen wilden fischen netz -

raben krächzen durch den schnee.

 

treten die sterne plangerecht

in den tierkreis des schützen,

hebt die jagd auf den fischadler an -

treibe strom, treibt ihr winde,

treibt ihr sande dem meere zu ...

 

 

sorgenvoller brief 1981

 

Meine freunde, so weit entfernt,

meinem Herzen doch so nahe !

werdet Ihr

bevor der winterregen

das letzte laub von den bäumen klatscht

bevor alles im ostwind erstarrt,

die rosen einschlagen können,

die weißen, die roten

im Łascienki-park ?

 

werdet Ihr worte und töne

gesammmelt haben und farben,

die wunden zu schließen

die die kälte reißt ?

die mutlosen aufzurichten

die sich im schnee verirren ?

 

unausdenkbar

verlöre ich

Eure spur

 

im juli 1982

den helden der SOLIDARNOŚĆ

 

 

 

In den juliwind gesprochen

 

Vor der sehnsucht

weht der sommerwind

rosenbläter einher -

weiße und rote

vom Łaszienki-park.

 

sanfte wellen

schaukeln sonnenlicht

unters uferlaub -

golden verhuscht es

zwischen schilf und rohr.

 

ernst wie schwäne

führen da engel

ihre grauen jungen -

durch die trauerweiden

ins freie wasser.

 

1981 - als die polnische armee die Solidarność niederknüppelte, schickte ich unserem Freund Ryscard Wasita dieses an ein altes polnisches weihnachtslied anknüpfende gedicht, das er in der ‘POLEN’ zu weihnachten 1981 in der ersten und letzten während des ausnahmezustandes erschienenen internationalen ausgabe veröffentlichen konnte, und zwar mit folgender - die staatliche zensur einschläfernden - einleitung:

 

 

 

 

 

Das Gedicht „Es ist die alte Polonaise“ verdankt seine Entstehung einem Pädagogen und Poeten aus der BRD, der von einem der schönsten polnischen Weihnachtslieder „Bog się rodzi“ (Gott geboren) bezaubert, zu jenem Gedicht inspiriert wurde. Den Text des Weihnachtsliedes schrieb vor rund 200 Jahren Franciszek Karpiński (1741-1825), ein hervorragender Lyriker ... in der polnischen Poesie der Aufklärung. Der Überlieferung zufolge stammt die Melodie von der Krönungspolonaise der polnischen Könige. die schon zu Zeiten des Königs Stefan Bathory (1576-1586) bekannt war.

 

 

ES IST DIE ALTE POLONAISE

I

so schritten die könige zur krönung

so stapfen die bauern zur krippe

trippelnde kinder an beiden händen

Bóg się rodzi - Gott geboren.

die alte polonaise

und ihre vollkommene wehmut

unter den händen des Fryderyk Chopin

und ihre seligen tränen

in den augen der pilger zur schwarzen mutter.

die alte polonaise

im mund der arbeiter von Nova Huta

und zwischen unseren händen

in unseren gefalteten herzen das gebet :

friede den menschen dieser erde

Bóg się rodzi - Gott geboren

allen.

 

II

aus nackten händen wachsen blüten

und verströmen sommerdüfte

mitten im winter, aus eises starre

schwere süße wie von weißen und roten nelken.

die alte polonaise

ihr klang, ihr duft

vom ostwind nach westen

vom westwind nach osten getragen

Bóg się rodzi - Gott geboren.

die alte polonaise -

wer will da noch dem herodianischen marsche

klatschen?

 

Zum 2 VII 1984 - zwischen längst ausgebleichten bildern fand sich einiges aus

 

I r m i n g a r d s g a r t e n g r ü n

 

vors haus gepflanzt

 

Ein hexennest

in den schatten versteckt

daß sie ihm trauen

ihren bandwurm zu töten

anstatt sich selbst

 

 

grün

 

Kleiner streifenfarn

zwischen pflaster und kamin

nahm er wurzelraum

gründet lautlos im gestein

lebensfreundlichen protest

 

 

Baschkas rat

 

Ins bunte lege sich der graue

ins paradies der düfte der

der stinkt -

die beste wirkung

ist ihm gewiß !

 

päonie

 

Der herzlilie fleischige wurzeln

teilt der gärtner mit scharfem messer -

so schneidet jede teilung

jede trennung scharf ins herz

 

 

 

Die wahre kunst

mischt erde mit fäulnis

wasser mit schleim

und etwas abendsonne -

und zeugt sich selbst

 

boshafte kritiker

nennen das produkt

sumpflilie

 

 

 

Aus Goethes garten

gestohlen - heimlich

in hecken versteckt

reckt nun die wurz

namenlos

die herzensblätter

die gold’nen blätter

der sonne zu -

und auch uns

 

iris germanica (deutscher regenbogen) - schwertlilie

 

Kann vom deutschen wesen nichts

an ihr finden,

wird von ihrer heilkraft kaum

die welt genesen -

leidet ja an husten nicht,

kriegt auch keine zähne

die welt

aber schwerter liefern wir

wenig pflüge,

reden lilienrein daher

vom freien frieden -

leidet ja an hunger nicht,

kennt schon keine sehnsucht mehr,

diese welt

 

 

unter der rose

 

Vom waldrand brachte

der rosengärten mutter

fünffach versiegelt

der verschwiegenen liebe

geheime offenbarung

 

 

 

... führt der gartenweg

zwischen lilien und birken

vom schatten ins licht ?

 

vergißmein nicht !

 

Veilchen, primeln, lerchensporn,

leberblümchen, gräser,

tausenschönchen, löwenzahn,

teufelskralle, iris,

 

akelei und immergrün

glockenblume, gemswurz,

fette henne, pfeifengras,

wurmfarn, lattich, ginster,

 

weißwurz, salbei, eisenhut,

wintergrün und günsel,

ruprechtskraut und lerchensporn,

wicke, rebe, schmiele,

 

hasenlattich, knabenkraut,

klette, distel, karde,

geißblatt, ragwurz, frauenhaar,

königskerze, nelke,

 

ehrenpreis und ferkelkraut,

witwenblume, minze,

leimkraut, miere, hainsalat,

wahrheit und auch dichtung.

 

Wer wünschte sich nicht

immergrün die hüterin

der blauen blume ?

so sehnsüchtig verklingen

der jahre abschiedlieder.

 

 

Im alten garten

der mächtige wurzelstock

reckt seine arme

er hat den grund verloren

und preist die freiheit.

 

 

So reichlich blätter

und blüten so selten nur -

sparsame natur

und doch - mit wieviel liebe

leuchten die sterne des nachts.

 

 

kolkwitzia amabilis

 

Wie vornehm schützt es,

das chinesische geißblatt,

vor nachbars blicken :

außen laub - blüht’s nach innen

rosa-weiß-ocker-getupft.

Sind die rosenblätter alle

schon vom winde verweht?

haben alle bälle

schon verspielt ?

und die gäste - gingen sie

alle schon dahin ?

eilt euch , eilt,

noch sind sie unterwegs !

fegt die terrasse!

der ball kommt ins rollen

und alle die stühle

werden nicht reichen ...

 

 

 

Das leben ist ein staudenbeet,

wir meinen‘s uns zu pflanzen.

zuerst wird fleißig eingesät,

die jugend muß alfanzen.

die kräuter blühn, die pracht gerät,

doch keine pomeranzen ...

dann wird das grünzeug abgemäht,

die sommermücken tanzen.

der herbst bricht an, zu früh, zu spät,

man träumt noch von romanzen -

und schon welkt alles hin -

der schneewind weht :

es war - noch gut im ganzen.

 

zwei pfingstrosengedichte

 

adel

Vor dir verneigten sich

kaiser und mandarin,

herrschaft und reichtum

opferten willig sie

dich zu bewundern

im armen gartenbeet.

 

 

edle päonie

Dem, der ganz und gar

zu eigen ihr für immer,

öffnet schamhaft sie,

umfängt ihn mit zärtlichkeit

und bringt ihre fülle dar

 

 

 

 

 

für Baschka

 

Friß dich satt, mein Hund !

der abend sinkt

hast einen langen weg vor dir

durch so viel’ träume.

 

eisenhut oder innere verteidigung

 

Abrüsten

den helm hochklappen

das visier öffnen,

mit klarem blick

dem gegner sagen :

so begehrenswert ich bin

berührst du mich,

lähmst du dich selbst

willst du mich verschlingen,

frißt du deinen tod

gehst du aber behutsam mit mir um

von vielen leiden erlöse ich dich.

 

 

 

Hinterm haus

züchtet jeder seinen trick.

wir - das bettlerkraut klemmatis,

die diebsrebe

deren saft blasen wirft

auf glatter haut -

was sich trefflich nutzen läßt

weil’s doch stets am gelde mangelt,

uns.

heckenrose - rosenhecke

 

Ein märchen ist es nicht

und kein verwunschen schloß.

auch weiß von keinem prinz

man nur ein einzig wort.

und doch, ein zauber hält

trotz allem fernweh mich

an diesem orte fest -

so süß, so warm, so schwer.

 

 

 

Gleich, meine freunde, gleich

setz ich mich nieder,

schreibe ich Euch einen brief:

kommt! kommt! nehmt platz

im garten unterm baum !

wein habe ich noch im keller,

seht, er steht schon auf dem tisch.

kommt ! kommt !

wir wollen trinken,

wir wollen lachen,

wir wollen fröhlich

beisammen sein .

 

zwei heilsame wahrheiten

 

Wer das unkraut nicht ehrt,

ist der suppe nicht wert.

 

- und -

 

Wer das bohnenkraut nicht ehrt,

bleibt ewig gebläht.

 

 

 

 

Liebster baum, verzeihe mir,

wenn ich dich zerhacke,

daß’s im winter, wenn ich frier,

im ofen friedlich knacke.

 

 

 

 

rüttelschleim im schüttelreim

 

Im garten wandelt ein nachthemd

das geht - potztausend - heut nacht fremd

so bleich und fahl

sieht’s spanner Karl

daß ihm die hose mit macht klemmt.

margarita maßlieb

 

Unter all den blüten

die perle finden

will mir nicht gelingen -

doch die sie säte

soll die liebste sein,

die schönste mir.

 

 

 

 

 

 

hier definiere ich das glück

 

Unterm baum ein wenig rasten ...

ein gutes wort unter freunden ...

Deine hand, die sanft meinen wunden kopf umfährt ...

im schatten ruhig schlafen ...

mit Dir in der wiese liegen ...

den wolken nachblicken

und den himmel offen sehen

am frühlingstag.

 

 

1984 als weihnachtgabe

 

G E G E N - S Ä T Z E

Träger flötenton :

ein welkes blatt treibt zum wehr

dann - plötzlich - stille

 

An der kirchentür

die alte blinde küßt das

Jesuskind aus holz .

 

Im schnee - die frauen

entzünden rote kerzen

auf dem markt - ein kreuz ,

ganz kleine warme sterne

vor drohend schwarzen stiefeln :

rot vor schwarz auf weiß .

wann singen die engel denn

friede auf erden ?

 

Im winternebel

ertrinken bach und büsche

alte krähen, zwei,

steif , in frack und zylinder

schreiten sie dem friedhof zu .

 

Die wegkapelle

von reifenquietschen erfüllt

nur motorgedröhn

auf dem kalten steinaltar,

verhüllt der schnee mit kunst .

 

G E G EN W I N D G E D I CH T E 1 9 8 9

 

 

dummer hund

 

Warum nur verbellst du

die großen tiere

immerfort ?

die bullen am wegzaun,

mit stieren kräften

stampfen sie

stets den gleichen dreck ...

die bagger des fortschritts

des vorstand pferde

die schwarze soutane ?

du mußt doch begreifen

daß solchen größen

dein gekläff nicht stört

noch meins

hirt und hund

 

Elfhundert schafe

mhm.

fünfhundert fressen heute

ihr henkersmahl

vom rübenacker

zuckersüß

 

hundertachtzig mark

bringt jedes schaf

neunzigtausend

mir morgen

sagt der hirt

und schlägt mit dem stock

ein lustiges loch

in die luft

 

dem schaut der hund nach

schüttelt sich

und umkreist seine herde pflichtbewußt

mit hängendem kopf

 

fortschritt

 

Sagte Fontane noch

zum glücke brauche es nichts

als eine kartoffelsuppe

und keine schmerzen

- so hätte uns demnach

die katastrophe von Tschernobyl

mit der suppe alles versalzen ?

 

 

Zum glück

versichern uns die betreiber

brauchten wir nichts

als eine gewisse menge cäsium

in brot und wein -

und dazu würden sie uns verhelfen

todsicher

 

 

 

über alles in der welt ?

 

Ein deutscher sein

ist nichts besonderes

achtzig millionen

teilen dies schicksal mit mir

etwas besonderes ?

ein mensch

auch ein deutscher

 

 

 

 

 

 

 

 

real existierender materialismus

 

Den wahren himmel

sagte ein gewisser herr

solle man den spatzen überlassen

 

doch seine verehrer

wollen den armen tieren

nicht einmal den vergönnen

so viele rauchopfer

bringen sie dar

so dichter smog

umschwebt ihren

warenhimmel

karfreitag 1989

 

karfreitag

 

Dies ist der tag

an dem die trauer überhandnimmt

und nicht mehr in schwarze kleider paßt

der tag

an dem die verzweiflung zu staub wird

zu welkem gras zu straßendreck

in den die kinder von Soweso fallen

und sich darin wälzen wie paniert

dies ist der tag

der die libysche mutter zur witwe macht

und den jüdischen säugling zur waisen

der tag

an dem die ermordeten von Hadamar aufstehn und mit irrem blick

vom schönen sterben reden

in der gaskammer

 

lamm gottes

zur schlachtbank geführt

und ermordet

heute

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

13.IX.1996

 

Nichts

ist selbstverständlich

 

auch das nichts ?

 

 

 

im winter

1996 /1997

 

Ein paar schritte durch die nacht

es fällt schnee, nicht der erste

und er taut schon während es schneit

ich hinterlasse keine spur

auf dem nassen grund

da!

Henriettes flöte

auf samtenen pfoten

 

 

 

 

 

 

drei mariengedichte

september 1996

 

I

madonna

 

Wie eine künstliche blume

haben sie die jüdin gebleicht

mit blutarmer haut und hellen haaren

mit blauen augen und weißem gewand

unter blassblauem mantel steht sie da

in seidenen schuhchen im schnee

und faltet die blassen hände und friert

so steht sie da

in den waldgrotten bei nassem wetter

in den dunklen ecken der kirchen

in wetterhäuschen und fensternischen

wo es zieht

und wenn ihr mitleidige seelen ein licht anzünden

macht der küster auch damit noch ein geschäft

so steht sie da

 

ein glück nur

sie ist aus gips

 

 

 

II

 

pieta

 

Hat man dir alles genommen ?

den tiefen glanz aus deinen dunklen augen

und von den lippen die schweren weisen

des volkes israel ?

 

mochte man dir nicht zum marktbrunnen folgen

dem leisen plätschern lauschen

des wassers, das vom eimer schwappt ?

 

nur die theologen

sie rissen dir als fetten bissen

dein geflüstertes ja vom munde

- und DU bist fortan nicht mehr gefragt

und selbst den schmerzensschrei

lässt man dir nicht

unter seiner geburt

 

heilige mutter

der ermordeten söhne

bitte für uns!

 

 

III

 

hört auf !

 

Unendlich

ziehen sie die sterne über dir auf

umkränzen sie dich mit engelchören und sphärenklang

 

indes die krippe mit den schmutzigen windeln

hinter der babylonischen fassade verschwindet

und lautlos die herodianischen geheimdienste

ihr blutiges geschäft beginnen

 

tausendmal tausendmal

treten die braunen, die roten, die schwarzen stiefel

in sein gesicht

schändet man deinen jungen

den du gestreichelt mit herzensblicken

zerschießt man deine mutterhände

schützend um sein köpfchen gelegt

jagt man all die kinder zum spielen

zwischen die minen mit den

sternen aus europa

 

haltet ein !

seht die mutter der mütter

und macht endlich frieden

 

 

meiner geliebten frau, unseren kindern und enkeln

 

 

Autun

12.V.97

 

O welch ein glück

diese stimme zu hören:

Lazarus, komm heraus !

 

o welch ein traum

den magiern gewährt

ihrer flucht einen sinn gebend

unserer flucht...

 

 

 

drei kapitelle in der kathedrale von Autun:

schlaf der Könige, flucht nach Ägypten, esel

 

 

königlicher schlaf

statt kühnen träumen von welt-

herrschaft und macht

nun ein bote mit flügelwort:

träumt nicht – sondern flieht

 

dem engelwort folgen

mit dem mut der verzweiflung

selbst nach Ägypten -

deshalb halten die menschen

uns esel für dumm

Dijon

15.V.1997

Notre Dame de Dijon

 

was haben sie nur mit dir gemacht?

im gefältelten gewand

auf einen thron gesetzt

kleine mutter deines großen sohnes

den du unterm herzen

und in windeln getragen

von den magiern verehrt

missverstanden von den jüngern

deshalb von den vielen umjubelt

und auf dem steinpflaster gerichtet

am kreuz ermordet

und dir wieder in den schoß gelegt

 

und was haben wir mit dir gemacht?

aus den händen haben wir ihn dir geschlagen

und nun überspringt deine trauer

unser mörderisches jahrhundert

und wartet auf ein besseres

 

 

 

 

 

 

 

Bad Vilbel

20.IV.1997

Ein schwarzer kater

schnurrt sie behaglich mit mir

bauch an bauch : die zeit

 

Westermarkelsdorf

4.IX.1997

herbstbeginn

Gestern noch : sonne -

helle flötentöne lichts

glitzern übers meer -

und heute und eben jetzt

kartoffelfeuergeruch

 

von tag zu tag

5 / 6 IX 1997

Tags trägt das meer sein

blauweißschimmernd sommerkleid

und abends karmin

noch erfrischt es uns schwimmer

und dehnt das glück unendlich

 

Noch trägt das meer sein

blauweißschimmernd sommerkleid

und abends karmin

schlüpft der späte schwimmer hinein

- packt ihn kalter nebel .

Staberhuk

13.IX.1997

Meeres wellenmaul

zermalmt selbst flint und granit

mit meerschaumzähnen

9.XII.1997

für Maxi

 

Ein jubiläum

nach fünfundzwanzig jahren

das leben ist kurz

 

 

NH

20.VI.1998

 

so glatt

 

So glatt sind die stimmen geworden

so leer die reden, die worte

die seufzer stöhnen ohne grund

die jauchzer wollen nicht mehr tanzen

nur noch glänzen soll alles

so glatt

so leer

so

 

 

 

ohne datum

 

Am morgen der wahl

im briefkasten nur ein blatt

der vogelbeere

 

NH

2.VIII.1998

 

Joel

 

Wenn die alten träume träumen

sagt die schrift

und die jungen gesichte schauen

Gottes geist sei es

der sich auf das fleisch ergieße

auf töchter

auf söhne

auf geknechtete

auf versklavte

und wie ein born

quelle und quelle

rede Er aus ihnen:

 

wunderbares am himmel

aber auf erden vergossenenes blut

wolken aus feuer

aus dampf

aus rauch

 

die sonne wandle sich

zu dunkler kälte nachtgestirn

und der todesmond

zum blutigen alltagsgeschäft

 

so ist unsere zeit

herrlich groß und schrecklich

ein tag des Herrn

 

NH

3.VIII.1998

 

überschlag

 

Noch gibt es tage

da enden die abende still

und über unserem tal

schweigen die wälder

 

die bäume halten die luft an

und all die zweige und blätter

rühren sich nicht

 

noch gibt es tage

im höchsten sommer

im tiefsten winter

 

da steht

die schiffschaukel

auf dem kopf

und zittert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mainz

13.VIII.98

Mainz

 

Wie es singt

wie es lacht

wie es singen und lachen kann seit jahrtausenden

und in jahrtausenden noch ?

carmina und choral

Ernst Neger und Günther Kehr

 

und die namen

die großen

und die kleinen

große bischöfe

kleine kaiser

und mein geliebter Josef

mit den erfrorenen füßen

 

beweglich wie Gensfleischs lettern

beharrlich wie Winfried und Wiliges

mächtig kleinkariert

das goldene Mainz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Trysil 1994

mittsommernacht

 

So endet der tag :

über den Trysilfjellet

gießt die kommende nacht

all ihre schatten

und läßt sie

wie schweren roten wein

das tal erfüllen

ansteigend mehr und mehr

das tal hinan

Schmäler wird dort

und durchsichtiger

der sonnenbeleuchtete rand

des kostbar sich färbenden glases

bis auch der

ins fahle mondlicht erbleicht

doch dann

mögen auch graue nebel

am talboden herankriechen

doch dann

mag von den aufgeschlagenen Seiten

auch der letzte schein gewichen

und das buch nun zu schließen sein

doch dann

beginnt das firmament zu leuchten

und sein verklärtes licht

verneint entschieden die mitternacht

sommer

seliger sommer unterm Trysilfjellet

du bist ja wirklich

unbesiegbar

 

 

Hafjell-Hütte

13.VI.1998

 

 

Gudbrandsdalen

 

Wie altes silber

so dunkel fließt am grunde

der Lågen breit und reich

von wäldern und almen gesäumt

der sonne entgegen

 

als bunte borte

um die braunschwarzen muster

von weiden und heide

von mooren und seen

begleiten die hänge

den königsweg der pilger

durch all die nebel

und die dunklen wolken

zum himmel so blau

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NH

15.X.1998

 

 

oktobermitte

 

Vom abendgold umglänzten gipfel

fällt nun das jahr geradenwegs

und steil hinab

nur grauer nebel steigt noch auf

und blauer rauch vom dach

 

zwar träumen die fenster behaglich

von äpfeln, von nüssen, vom wein - doch

schwarz steht der wald und schweiget

hinter dorf und haus

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

auf fehmarn

september 1999

STRANDHAFER

 

Das amt am nagel

und nackt liegt er am ufer

schilf- und binsenfrei

 

 

 

Meeres wellenmaul

zermalmt selbst flint und granit

mit zähnen aus schaum

 

 

Spring in die wellen

in reinem golde baden

die märchenprinzen

 

 

So viele steine

am meeressaum - doch keiner

der dem andern gleicht

 

 

Menschlich : die steine

so schön sie sind ist keiner

doch vollkommen

 

 

Immerzu schreiben

auf und ab und auf und ab

wie meereswellen

 

 

 

 

Still still du mein herz

ein alter fischerhafen

am sonntagmorgen

 

 

 

Hier bleiben wir nicht

einer hohen küste zu

sind wir unterwegs

 

 

 

Noch trägt das meer sein

blauweiß schimmernd sommerkleid

und abends karmin

noch erfrischt es uns schwimmer

und dehnt das glück unendlich

 

 

NH

23 XII 1999

Er klopft schon gar nicht erst an

ob du ihn hereinlässt

auf eine tasse tee vielleicht

oder ihn etwa aufnimmst

und wenn auch nur ins

fremdenzimmer

 

er versucht es bei der behörde

denn hierzulande sind die ämter

gnädiger als die menschen

und die §§ sanfter

als die betten

 

notfalls tut es aber auch ein stall

ein alter schafstall vielleicht

und wird er da von BILD entdeckt

oder gar von RTL

dann bringen die leute

plätzchen und glühwein

und drücken sich die nasen dran platt

wie kinder am schaufenster

vom karstadt vor

weihnachten

 

2000 gudbransdalen

zum neuen jahr

vor dem eingang zur schrotholzkirche

 

 

So mühsam waren die letzten schritte

so steil der weg bergan

und nun

mehrfach verschlossen das portal

und wir ohne schlüssel ?

von eisernen bändern

in unsichtbaren angeln gehalten,

geschwärzt vom blut der vergangenheit

verwittert in unsere gegenwart

und nun

ein neues jahrtausend vor uns

aber keine zukunft ?

 

kommt die zeit

die tür wird sich auftun

und ein leiser ruf hörbar :

folge mir nach

auch über diese schwelle

von jahrhundert zu jahrhundert geflickt

führt dann der weg

Betlehem war nur der anfang

 

Die alte kette zerriss

das dunkle tor ging auf

mit offenen armen: willkommen, willkommen

 

die anfangsworte eines reimes

das hauptthema einer symfonie

die skizze zu einem gemälde

 

ganz unerwartet: die einladung an alle

ganz überraschend: der erste gruß, der erste kuss, die erste umarmung

und unerschöpflich: das weite grenzenlose land

 

strahl, leuchtender, wärmender, weisender strahl ohne ende

welle, bewegende, schwingende, tanzende welle ohne strand

liebe, alles duldende, freiheit schaffende, antwort erhoffende liebe

dir und mir und allen

ein anfang

fang an

dein neues Bethlehem

 

Wir wünschen

von ganzem Herzen

GESEGNETE WEIHNACHTEN

und ein

GLÜCKSELIGES NEUES JAHR

2004

 

fünf und sieben und fünf

 

1 I 2004

Aschgrau silvester

nach prächtiger sternnacht

dann neujahr : aschgrau

 

frühsommer 2004

Blühend und fruchtend

licht lampion und ballon

löwenzahn : lieber!

 

17 IX 2004

Seiner mutter sohn

trotzt ihren heißen strahlen

selbst der kleinste stein

 

22 IX 2004

Sonst so behäbig

beeilen sich der fungie

blätter zu nicken

nach unten und zur seite

wohin der wind eben weht

 

9 X 2004

nun erst da laub und

vogelbeeren gefallen

glänzt der silberstamm

der alten ebersche

im licht von sonne und mond

 

NH 4 X 2009

für Irmingard

die an allem schuld ist

 

Haus bornwiese fünf

so viele gute kinder

und glücksjahrzehnte

von vieren enkel plus acht -

doch busch und baum wie silben

 

verstehen

 

Wenn ich mit meinem hund rede

mit Baschka

mit Bella

mit Trolle

versteht sie jedes wort

nur anders

was ich ihr sage

versteht mein hund nicht

aber mich

 

so redet wohl GOTT mit mir

 

wie sonst wäre ich fröhlich

wäre ich traurig

zornig

verzweifelt

ängstlich

oder auch manchmal

einfach lieb

?

NH 7.IV.2007

beim abendspaziergang

 

 

Noch seufzet und schluchzt

schlägt flötet jubilieret

uns die nachtigall

und der mond besingt die nacht

die immer tiefere nacht

mit küssen

P.P.

 

 

 

 

Heinz Kleiter

meinem freund

 

Allemal zu früh

zog es Dich vor den ersten

kranichen südwärts

 

viel zu lang wird der winter

bis all die tränen tauen

 

 

 

 

 

 

 

 

Eschede

31 VIII 2003

Auf der neunten stufe schon

wenn der besucher kopfschüttelnd

die todesstätte verlässt

und fast noch die ganze treppe

hinaufzusteigen hat

mit der ungeheuren last

jener 101 namen

 

auf der neunten stufe

wenn er sich wendend

kaum den kleinen kirschhain überschaut

der nur in erster frühlingsblüte

sein unschulds-geheimnis preisgibt

 

auf der neunten stufe

findet sein gesenkter blick

in des hellen kalksteins ödnis

wie ein leicht gerolltes gingkoblatt

den abdruck eines armfüßers

der vor fünfhundert millionen jahren

im moostierchenkalk lebte und

starb

 

dies betrachtend

beginnt der besucher zu ahnen

viele viele stufen muss er noch steigen

bis er auf die von woher kommenden gleise schauen

bis er ihren davonrasenden bahnen folgen kann

wer weiß wohin

24 II 2013,

nachts

 

In jener zeit

waren selbst dichter

und auch sänger

in verlegenheit

wie sie mit ihren dürftigen

worten und bildern

IHN

einfangen und benutzen

und sich dienstbar -

und sich IHM

liebenswert und unentbehrlich

machen könnten :

ihn zu erklären

ihn zu beherrschen

sich zu verklären

ihrer zeit

in jeder zeit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

2013

karwoche

 

Bei schönstem wetter

da tropfen aus der sonne

schneeregenwolken

immer heller blutigrot:

gründonnerstag-karfreitag

 

Karfreitagmorgen :

das dorf hüllt sich noch einmal

in nebelkissen

und zieht sich die schneedecke

über dächer und felder

 

Inmitten der nacht

lodern dann osterfeuer auf

ins herzensdunkel

und singen lumen christi

in dieser seligen nacht

 

 

 

 

 

 

4 XI 1985

Harasiewicz spielt Chopin

 

 

Wahrheit der gebrochenen linie

die - mitten - im schönsten laufe abbricht

wie eine melodie von Chopin

und dadurch sich vollendet -

sonst wäre sie nur schön

 

das leben auch ...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

kinderzeichnung

 

noch ist der himmel blau

noch sind die wiesen grün

und die menschen blicken

aus großen augen

und reichen einander die hände

 

nur die kleine Anja

malt in düsteren farben

ein haus ohne fenster

die mutter armlos

und deshalb die sonne

schmutzigrot

und ohne strahlen

NH

25 X 1985

 

aus den Beskiden, von den ufern der bergbäche Poprad und Dunajec brachte ich eine handvoll steine nach hause.

grau, von quarzadern durchzogen, rund geschliffen zwischen fels und eis, liegen sie nun auf meinem arbeitstisch und ich lese unter der lampe die altkyrillischen lettern ihrer adernschrift.

von einem, dem ältesten, am meisten zerriebenen, fast unlesbar gewordenen stein weht durch mein zimmer ein lied, das wie ein märchen beginnt:

 

Eine hütte war einmal

wuchs eine weide daneben

und ein kleines hirtendörfchen

wuchs ein junger Łemke darin ...

 

sollte doch heute der mondenschein

fallen ins gäßchen und leiten

grauschimmel dich und mädchen mich

in dem hochzeitswagen dahin ...

 

grauer, senk nur nicht den kopf

klag mit schönliebchen nicht weiter

vielzuviele tränen fließen

auf die weißen händchen herab

 

laß dich führen, folg dem mond

schau auf den ring nicht am händchen

niemals, ach niemals und nimmer,

liebster Łemke, kann es noch sein ...

niemand kann beschreiben, nein

was wir zusammen geplaudert

herz mein herz - was wir geflüstert

und die süßen worte darin ...

 

nein, beschreiben kann man’s nicht

beben und klagen und seufzen

herzliebes herz, was wir besprochen

fährt nun auf schwarzem wagen dahin ...

 

altes militärisches lied - lese ich auf der rückseite des steins

und seine melodie klingt in mir lange nach, kalt wie die berggewässer der Beskiden, heiß wie das ende des Łemkenvölkchens, das zwischen seinen großen Nachbarvölkern zerrieben wurde. deren credo - das Symbolon Łemskowskie - lautete

 

geben

aus meiner tasche

dem staate ?

öffentlich aufgefordert ...

dann verpflichtet ....

erst zuletzt gezwungen

doch GOTT

aus ganzem herzen

und dem nachbarn

helfen

wie er mir

 

so schwanden unsere bienenvölker dahin

so verbrannte das wachs unserer kerzen

so verklang die demut der alten hymnen

im nebel der kirchhöfe am fuße der Beskiden

NH

15 XI 1985

 

 

das kleine schwarze

unter so vielen weißen kindern

 

mit großen augen

tanzt es zur musik

und träumt

schön ist die welt

 

aber mehr noch

spannt es seine ohren auf

und läßt seine lippen wandern

rundum

NH 16 III 1986

für Lioba

 

 

 

Es sind dieselben glocken

die uns alle rufen

Dir legt der schöpfer

alles vor die hände

fass zu und wirke

es ist tag -

 

und setz ein wenig fort von dem

was wir schon taten

und dass wir liebten -

und ganz besonders Dich

 

Deine mutter und Dein vater

zu Deinem 21. geburtstag

NH

1 iV 1986

 

Wenn die himmlische bühne

ihre samtgrauen vorhänge öffnet

o welch ein blau

beherrscht dann die szene

und meine birke

mit ihrem weißen stamm

und ihren schwarzen zweigen

knüpft sich knospen ins haaar

und schwimmt ins meer

hinaus.

 

jahrelang ein gärtner

der pflanzt und jätet

der gräbt und hackt und sich quält ...

aber dann

in sekunden

wird er zum musiker

der liebt - und

der vorhang schließt sich

im frühlingswind

NH

2 / 3 / 5 V 1986

 

notizen

 

In dieser nacht

ist der schlehdorn aufgegangen

im sanften und warmen frühlingsregen

und nun spielen die kinder auf den wiesen

und pflücken schaumkraut:

es ist ein blühen auf der wellt

und mein hund leckt wasser

das frische wasser aus den pfützen

vom frühlingsregen aus Tschernobyl

strahlenverseucht

 

 

Dies ist ein frühjahr

wie keines noch war

da blüht die welt auf

strahelend schön ...

löwenzahn und scharbockskraut

die buschwindröschen und veilchen

und noch späte osterglocken

und die kinder

die mit rosigen wangen

im grünen sitzen

nichtsahnend glücklich

Neustrandischmoor

3 VI 1986

 

 

Storms stimmen, die über der tiefe sind

 

das watt versammelt

die stimmen seines orchesters

glucksen und quietschen

pfeifen und gurgeln

von jähem möwenschrei überzogenes

schnurren und knarren

es schnurrt und klatscht und piepst

ganz ohne takt

31 VII 1986

 

ikonostasis

 

Da die wächter aufs morgenrot warten

und die jungen auf den abendstern

und die alten mit bangen

den magierstern bleichen sehen

verhüllt nun der tag

und offenbart die nacht

denn die drei pforten stehen offen

und die bilderwand verfällt

 

dahin sind die schönen bilder

doch klage ich nicht

daß ich die goldenen rahmen leer finde

die wand vom regen verwaschen die pfortentüren angelehnt

aber zu nichts führend

im museum

 

mit großen offenen augen

umstehen nur noch die engel

den abgeräumten altar

und weisen mit strenger gebärde

den unsichtbaren weg

11 IX 1986

 

 

altweibersommer

 

Der herbst treibt welke blätter

mir durchs leere haus

noch wärmt ein wenig sonne

estrich stuhl und tisch

 

 

 

NH

16 IX 1986

 

keine gedichte mehr

keine zärtlichkeiten mehr

in den worten

nur gedröhn

geräusch

und supersound hifi

als käufliches gewerbe auf cd

 

das lied

das dir der wind erzählt

verschluckt ein schwarzes maul

von tausend watt

NH

3 X 1986

 

nach Auschwitz

 

In Auschwitz starben die dichter

die sänger erstickten im gas

ihrer klageschreie asche

tragen die engel wortlos

durch alle himmel

und salzig schmecken seitdem

regentropfen wie tränen

 

 

 

 

undatiert

auf einem roten zettel

 

und ich danke

über jahrhunderte hinweg

dem der vor allem dank sagte

für einen kleinen augenblick

stille in Plankstetten

 

NH

17 XII 1986

 

besuchsvorbereitungen

 

irgendjemandes wegen

der dann doch nicht kommt

werden alle vergessen

die da sind

NH

8 X 1986

 

herbstliche depression

 

Nun geben auch die bäume auf

von stürmischen winden, vom regen

lassen sie sich ihre blätter abstreifen

und niederschlagen aufs schwarze pflaster

klatsch nass

 

widerstandslos

rinnen regenschnüre

am fenster herab

flüssiges wachs von trauerkerzen

zuerst noch durchsichtig

rasch aber erblindend

und alle sicht verdunkelnd

zu unruhiger nacht

NH

14 mai 1987

 

tatbestände

 

I

Wer auch nur die lippen kräuselt

bei erwähnung eines gesetzes

erfült den tatbestand

innerliche ablehnung

und ist schuldig

des todes

 

WU - kaiser von China (140 -87 v)

 

 

II

Wer die hände in grüne hosen steckt

und das bei einer rede vor dem bundestag erfüllt den tatbestand

unklares verhältnis zur gewalt

hat er die hände flach in der tasche ?

ballt er etwa eine faust ?

das hohe haus muss bei höchster strafe

auf gläsernen taschen

der abgeordneten bestehen

 

Jenninger - bundestagspräsident

NH

27 VI 1987

für mütter gechrieben

und väter

 

noch vor allen worten

beginnt in den köpfchen

der krieg

noch ist nicht ausgedacht

feind

noch sind nicht begriffen

angriff sich wehren

noch stehen die bilder

die allzutäglichen

nicht vor augen -

 

beschleicht in kaltes gefühl

den rücken

und hetzt von unten her

die ganze logistik los

 

misstrauen und angst

und die sie schüren

bilden den anfang

noch vor allen worten

beginnt in den köpfen

der krieg

auf fehmarn im spätsommer 1987

zu Walt Whitman’s gedächtnis

 

strandhafer

Nur an der nördlichsten spitze

weit hinterm letzten leuchtturm

kann der wind sein ganzes programm abarbeiten

sehen wir seinen alten segen noch:

zahlreich wie die sterne am himmel

unzählbar wie der sand am meer

nur wenige menschen sind an der langen küste

in der spröden schönheit von deich und strand

und alle liebäugeln mit den elementen

um in wind und wasser

zwischen strandhafer und -distel

die alltagsräude abzustreifen.

 

ebenso

Hier sehe ich die uhren rückwärs laufen

ein schmales, zartes dünengras

von flotten sohlen längst geknickt

ruckt im westwind einmal noch empor

und bricht hin -

und quallen scheben hier in wirren kreisen

ein buntes räderwerk, das jeden rest

an zeit und zukunft fein zermahlt

und dann verschlingt -

hier sehe ich den dünenweg

ins nichts verlaufen,

die färbung seltsam bleiern

hyazinthenbläulich anilinrosa

etwas gelb

ebenso

 

unkrautwarnung

 

Hirtentäschel und kamille - wacht auf !

der landwirtschaftliche dienst

hat zum kampf gegen euch geblasen

wacht auf! kornrade und klatschmohn

und du tausendgüldenkraut

auf wachen ! auf wachen !

wehe euch heilkrätern wehe

ihr volksschädlinge

die ihr die chemie um ihre tabletten bringt

jetzt ist es aus mit euch

man bringt euch um

 

lacht der bauer

und sprüht die giftige brühe aus

teuer und wirksam

und ungesund

NH

23 III 2989

 

donnerstag der tränen

 

Da wir in die nacht hinausmüssen

unter den bleichen vollen mond

in die nacht

die die gefährten nicht durchwachen können

in die nacht

blutschweißiger angst und unseres gewinsels

der becher möge doch an uns vorübergehen

 

was kann uns da trösten ?

 

dass wir lieben und dienen

den freunden - ja dem verräter

dass wir geliebt werden und gestillt

über fleisch und blut hinaus

aus brot und wein

 

bis dann die scheinwerfer

unserer flucht durch die gärten

ein ende machen

und uns die wachen ergreifen

und der verräter uns küsst

 

o engel gottes wehre

und schlage du darein !

NH

18 VI 1989

 

 

zwei träume

 

 

I

 

Nachts wachsen mir

die inneren organe nach

verdoppeln sich herz und darm

nieren und magen und blase

und mein alter

mein verbrauchtes

mein geschändetes inneres

entferne ich leicht

mit einem kleinen schnitt

in die scham

durch den sich das alte entfernen lässt

zusammenhängend wie das

gekröse eines schlachttieres.

 

 

 

 

 

II

 

 

So erneuert trete ich vor meine kinder

höre ihre engel ihnen unsinn ! einreden

sobald mein unterricht ihnen schaden könnte

mit seinen berechnungen

und heilige stille ! ihnen gebieten

wenn ich worte finde

die dem friedeen dienen

während draußen schon die panzer

in den schulhof rollen

denen ich dann entgegen gehen muss

in dem ganz normalen schulhof

zwischen die hickelhäuschen der kinder

und die panzer

und die soldaten richten auf mich

ihre automatischen waffen

die nach meiner mathematik berechnet sind

und nach meiner physik funktionieren

in die dunklen löcher

der mündungen fällt

mein letzter blick

 

NH

4 VII 1989

 

abendspaziergang

 

So lind sind die winde

an diesem abend

sanft wie daunen

darin sich zu wiegen

darauf zu fliegen

an diesem sommerabend

auf den lauen winden

mit den füßen voraus

NH

5 VII 1989

 

wozu ?

 

Wozu - hat man uns oft gefragt -

wozu pflanztet ihr

alle die bäume

in euren garten ?

 

nun - weil dies kein garten ist

sondern ein ort

an dem die erde

ihre arme und hände

sehnsüchtig zum himmel recken darf

um alle die sonnenstrahlen zu empfangen

und die blätter des ahorns

und die des gingko

baden zu lassen

im blauen

himmelslicht

NH

1 IX 1989

Um 4 uhr 45

Im morgenrot

blitzten die mündungsfeuer

so viele frühe tode

mit seegranaten ins land

und rote nächte über die städte

Danzig

Warszawa

Rotterdam

Coventry

London

Leningrad

Stalingrad

Hamburg

Köln

Dresden

Berlin

todesröte und todestage

und todesnächte in die gaskammern

von Hadamar bis Brzeszinka

 

nach sechs jahren rauch

noch 50 jahre asche

und immer noch will

der uniformierte Kain

von seinem zivilen bruder Abel

nichts wissen

 

 

 

 

 

kaum kennt man die namen noch

wo die brandopfer qualmten

die die duodezgötter verlangten

und ihre liturgen feierten

und deren büttel vollstreckten

bis sie im blut ihrer opfer ertranken ?

 

zwar sind die straßen indes

abgespült und glattgefegt

überdie sie die menschen gequält

tage und nächte

durch glühende hitze

durch eises kälte

auf jede lücke zu im horizont

nach norden - nach süden

nach osten - nach westen

geködert und vertrieben

gezerrt und gehetzt

 

und es kommen

und kommen

die menschensröme

nicht zur ruhe

vom startschuss aufgeschreckt

um 4 uhr 45

NH

25 X 1989

 

 

Kommst du in ein fremdes land

frage nach der polizei

was sie gestern tat

was sie heute tut

 

hörst du

sie habe gestern die mörder freigelassen

um heute die musiker verhaften zu können

kehre um - rate ich dir - kehre um !

 

sagt man dir

sie habe den schreihälsen den markt überlassen

um heute den dichtern die tinte zu verteuern

verstopfe dir die ohren

und eile eiligst davon.

Bad Soden

4 XI 1989

 

Gegen die letzte wand gelaufen

mit wundem kopf

mit rotgeweinten augen

ziehe ich bilanz

 

ich will die alte treue nicht brechen

aber doch abschied nehmen

vom eitlen allen-alles-wahn

nicht ich - Er wird gebraucht

 

was ich darf heißt

nachsinnen

anschauen

dem nächsten nahe sein

und daheim

lieben

Møns Klint

2 VII 1990

 

Du pockennarbiger

rotgoldener mond

wie der meister von Elmelunde

sah ich dich dem paradies entsteigen

duch die kreidefelsen

von Møns Klint

 

 

 

Råbymagle

7 VII 1990

 

Wässrig verlaufen diese farben ins meer

zerfließen nach lila nach rosa nach karmin

oder wie immer die traumstädte heißen

dahin die großen gespensterschiffe nun gleiten

durch den sanftfarbenen baltischen dunst dahin

 

doch unverändert das leuchtfeuer auf Rügen

Hohe Rhön

27 X 1993

 

 

 

Vom Hoherodskopf zum Gackenstein

 

 

Heute legt sich die sonne

in ein federkissen von nebel

 

am wegrand blank und scharf davor

entlaubtes vogelbeerstrauchwerk

geknickte äste

zittrig schwankend im scharfen ost

beginnt am abend mein winter ?

 

 

 

am Bilstein

mittags

 

Mühsam führte der weg uns herauf

doch nun

auf der sonnen seite der felsen

essen wir unseren apfel

und legen unsere hände

auf die altschwarzen moose

 

der schroffe abstieg muss warten

solange uns brot und tee noch schmecken

NH

11 XI 1994

 

mein verlorenes gedicht

 

Verloren ging mein gedicht

von den kleinen federbällchen treue

wie ich die schwanzmeisen nannte

die jedes jahr wiederkehrten

auf den zaun

in die hecke

die den Guten Ort

einfriedigen

dahin nun keiner mehr kommt

dahin nun keiner mehr geht

 

da aber die verwaltung

alles wohl richtet

den rasen fleißig mäht

und die waldreben ersetzt

durch lebensbaum

und die umgeworfenen steine

wieder in reihe und glied dastehen

bleiben nun die meisen aus

und mein verlorenes gedicht

NH

4 VII 1995

 

fortan

 

Nun hängt mein amt am nagel

und ich liege nackt am see

schilf- unf binsenfrei

vom vierten des juli an

bis in den kalten winter

 

weder tintenblau

noch bleich kreide - doch auch

kein kinderlachen

Mers le bains

22 VIII 1995

 

Im lauen nordwind schwanken

auf gleißenden wellen

die schattenboote

hinaus aufs meer

hin auf den goldenen seeweg

der sonne entgegen

die ihnen errötend

entgegensinkt und den

sehnsüchtig nach ihnen schauenden

menschen am strand

 

 

ebenso

 

Spring in die wellen !

zum märchenprinzen wirst du

in rotem gold gebadet

von der sonne

an diesem abend im meer

 

o wie ihr glanz dich umstrahlt

die nicht fragt

ob deine haut

weiß ist oder schwarz

Mers le bains

26 VIII 1995

 

unruhig bist du mein herz

in des meeres gewoge auf und ab

mitten im schillernden grün

und dem kühlen blau

aus dem gewand der madonna

dem trost für viele im sturmgebrüll

wasser - das mich austrocknen lässt

und mich dann überflutet

wie die liebe klippen und verstand

 

wenn die großmutter warnte

die immer an land gelebt

das meer habe keine balken

was hilft das

gegen die seekrankheit angst ?

was gegen die gischtenden

sich selbst überschlagenden wellen ?

 

ruhig wirst du mein herz

und still

erst am sonntagmorgen

im hafen

Mers le bains

28 VIII 1995

 

 

Abbeville

 

Hier finden sich

anfang und ende

der archäologie

 

seit der junge Picard

jenen ersten faustkeil fand

und Perthes im torf

einen längst vor der eiszeit

ausgestorbenen biber

war das wahre alter der menschheit

zu umfahren

 

seit am 20. mai 1944

der deutsche general B

diese stadt zerstören

und in ihr tausende menschen

wie du und ich

verbrennen ließ

und mit ihnen die zeugnisse jener funde

 

entblößt die archäologie der archäologie

den wahren charakter der menschheit

Mers le bains

29 VIII 1995

 

Drei schwankende lichter

weiß - grün - rot

in der stürmischen see

krank im viel zu kleinen boot

in den viel zu hohen wellen

und ein kurzes rotes signal

in der viel zu dunklen

weil viel zu großen nacht

Mers le bains

29 VIII 1995

 

 

 

Wir sehen die nebel kommen

übers meer

daher die freiheit kam

 

sie schweben

mit badehütten

leicht davon

verwischen den strand

lassen klippen und stadt verblassen

dunkelbleich

ja stopfen meeres maul

 

auch wir gehen

endlich

übers meer

daher die freiheit kommt

Mers le bains

31 VIII 1995

 

 

Endlich kehre ich mich doch

dem lande wieder zu

und dem meer den rücken

 

so schaue ich

vorwärts zurück

und rückwärts nach vorne

 

so widerspreche ich

und sage ja

so liebt mein herz Gott

in seinen widersprüchen

und zuletzt den

großen bruder schlaf

 

sonnenaufgang vor augen

und sonnenuntergang

Beethovens erstes quartett

im einen ohr

und sein letztes

im anderen

 

und Irmingard

immer in allem sinnen

und unseren ersten kuss

-bei sonnenfinsternis -

in der seele

Mers le bains

1 X 1995

 

Vollkommen

fand ich keinen stein

an all den gestaden

nicht an form

nicht an farben

ob mit einschlüssen

ob ohne -

angeschlagen viele

zerschlagen auch

beinahe menschlich

NH

herbst 1995

 

Mirage

ein jagdflugzeug

die rakete

tomahawk

 

unsere wunder sind teuer geworden

und schnell verpufft

von unseren jünglingen

steht keiner mehr auf

erst recht nicht

der witwen söhne

nach der wunderbaren jagd

aus der millionenschweren

zerstörung

kehrt keiner zurück

 

 

 

NH

13 VI 1996

 

soziale not bei uns

 

 

Du hast alles

dir in den weg gestellt

und weißt nun nicht mehr

weiter

Holtug

24 VII 1996

 

Ihr engel

 

die ihr meine ängste seht

den herzensschlag in meiner brust versteht

den krampf in meinen adern fühlt

und den würgegriff um meinen hals

 

lehrt mich euer schwingen

an der großen hand

und betet ihr mit meinen

zitternden händen

 

ihr engel

Holtug

29 VII 1996

 

boote

 

Boote am strand

an den steinen im sand

kleine boote

landeindeinwarts die kiele

heimgekehrt

angebunden

verpflockt

 

welch ein widerspruch !

als zähle nur die ankunft

 

doch dann

in aller frühe

der aufbruch

ein par stangen

kleine netze

reußen

der fischer raucht noch

eine zigarette

und macht das boot flott

und sich

zum freien horizont

Holtug

2 VIII 1996

 

sommer in Holtug

 

Willkommen bist du hier

tritt ein

nimm platz

und finde dich

 

in der stille des waldes

im wind über den ähren

in der kühlen wiege der wellen

im kargen leben am strand

Porseager heißt diese welle glück

 

wie bald schon werden die wildgänse unruhig

schreien dich nachts aus dem haus

zeigen am himmel mit großem pfeil

den weg nach süden

und du musst auf und davon

nach wehmütigem abschied

NH

7 XII 1998

 

Bella

Schwarzundweiß

wie die zehn finger

in Mozarts sonaten

über die tasten huschen

allegro

vivace

molto vivace

andante

so bist du mit mir

all die tausend schritte

alle tausendmaltausend schritte

doppelt und dreifach

neben mir und voraus

hinter mir her und zurück

gelaufen und gelaufen

und kein umweg

und keine wendung

war dir zuviel

zu weit

die schönheit auszukosten

der freien bewegung

voll grazie

voller charme

mit wehmut im blick

zuletzt

als ich von tränen übermannt

NH

13 XII 1998

 

Noch sind die spuren frisch

verscharrt der boden

wo sie zusammenbrach

geschmolzen der schnee

wo sie gelegen

zuletzt

unsere Bella

 

doch bald schon

deckt frischer schnee

sein kaltes tuch

über sie

weht bitter der sturm

durch die dezembernacht

NH

15 VI 1999

 

Das schaf

das mit seinem lämmlein

des weges trottet

ist es nicht meine schwester ?

und die wachholderdrosel

die auf höchstem wipfel trillert

wie ich singen möchte

ist das nicht mein bruder ?

ja selbst der kuckuck

der hinterhältige

der sich niemals sehen lässt

ihn muss ich als chef anerkennen

der mir die jahre hinzählt

meines lebens

Abbaye de la Pierre qui vive

1997

 

 

zu wunderbar

dreht sich in deinen diensten

die erde und zeigt dir den kosmos

in seiner ganzen tiefe

wolken von sonnen

nebel von weltentröpchen

senden seit undenkbaren zeiten

aus unschätzbaren weiten

licht ihrer gluten

dir zu

und grüßen dich stäubchenzärtlich

als drehe sich

des ewigen himmels zier

nur um dich

erde , du karussell

im lunapark all

 

doch du mensch

von irdischen lichtern geblendet

blickst kaum

zu den himmlischen hinauf

 

 

NH 2005

 

Nebel - am vorhang

aus trauerbirkenzweigen

frieren die tränen

 

 

 

 

NH 2006

 

 

Intoleranz ist eine chimäre

die sich von abgeworfenen häuten nährt

ausgeschlüpfter lügenschlangen

 

 

 

 

 

NH 2 XI 2011

 

sperrmüll

 

Sessel und sofa

den alten schreibtischstuhl drauf

- warum nicht auch mich ?

 

NH

13 XII 2011

 

Da

urgrund der welt

urgrund dieser wunderbaren welt

urgrund dieser schrecklichen welt

allur des uralls

Du stille vor dem knall

Du stille nach dem knall

Du ursprung allen lichts

Du letztes ziel allen dunkels

und ruhekissen nach dem schlaf

wort im schweigen

hauch im sturm

dunkel im licht

und leben im tod

dank Dir

 

 

 

 

NH

7 III 13

 

 

 

In dunklen nächten

auseinander schwellen die

bäume und hecken

und efeu überwuchert

von den rändern her den teich