Peter Paul Schweitzer : AUS MEINEM  LEBEN
 
Abstract
Die Geschichten meines Lebens verliefen zwischen einer Reihe von Wendepunkten, an denen ich mir vernünftiger Weise sagen musste, “Hier geht es nicht mehr weiter”. Punkt. Sagt man das an solchen Punkten nicht, sondern fragt sich, ob es denn nun wirklich nicht mehr weitergehe, so wird man zu einem Spezialist

  Trotz des Chaos ein guter Anfang ?

  I
 Die Generation der Hineingeborenen - das sind wir. Am Nachmittag des 1. Mai 1933, als gerade der Hauptredner in seiner SA-Uniform der großen Versammlung auf dem Marktplatz seine Stimme hob, um den Führer, der dem deutschen Arbeiter den Tag der Arbeit geschenkt habe, mit dreifach donnernden Heil-Rufen die Verehrung der ganzen Domstadt darbringen zu lassen – tippte Hergenhahn meinem Vater von hinten auf die Schulter: “Willi! Lass den Arm unten. Es geht los.” überrascht fuhr mein Vater herum, blickte seinem Freund ins Gesicht, und als er dessen strahlende Augen sah, folgte er nur zu gern seiner Kopfbewegung und verließ mit ihm, so schnell sie konnten, die “Heil!” brüllende Menge. Die beiden liefen durch die Stadt zur Frankfurter Straße, wo, dem pompösen Postamt gegenüber, im Hinterhof Willis Eltern wohnten.
 Sein Vater kam ihm schon aus dem Hof der Eisenhandlung Fischer entgegen und empfing ihn aufgeregt: “Die Geburt hat schon begonnen. Die Wenzel sagt, es werde wohl alles rasch und gut gehen.” Und das hatte die Hebamme nicht falsch eingeschätzt, die Geburt ging auch flott und glücklich vonstatten, so dass ich mit dem Beginn des neuen Tages gesund zur Welt kam. Sogleich begann ich kräftig einem Leben entgegen zu krähen, das mich Schlag auf Schlag mit Überraschungen erwartete, deren erste sogleich folgen sollte.
 Denn kaum war ich geboren, kaum hatte mein Vater meiner Mutter mit Glückstränen in den Augen für das wunderbare Geschenk, das sie ihm geschenkt, gedankt, ergriffen - allen Anwesenden unverständlich - fürchterliche Krämpfe meine arme Mutter, die ihr rasch die Besinnung raubten und mit zunehmender Gewalt ihren jungen Leib schüttelten. Alle Versuche der Hebamme und dann auch des herbeigerufenen Arztes Dr. Hohlwein zeigten keine Wirkung, die Krämpfe tobten und rasten unvermindert fort. “Eklampsie” sagte Dr. Hohlwein und schüttelte verständnislos den Kopf. Nach einer Weile schickte er um einen Krankenwagen und veranlasste Mutters Überführung ins St. Vinzenz-Hospital.
 Dorthin fuhr man meine Mutter, festgeschnallt in einem Krankenauto. Mein Vater trug mich auf seinen Armen hinterher. Ihr Weg führte durch den Eschhöfer Weg entlang der alten Stadtmauer, hinter der der bischöfliche Garten, die bevorzugte Arbeitsstätte des Großvaters, und das Kloster der Vinzentinerinnen und deren Krankenhaus. Inzwischen war der Mittag meines eigentlichen Geburtstages gekommen. Auch die Eltern meiner Mutter waren mittlerweile verständigt worden, aber die Großeltern Sieber kamen nicht zum Krankenbett ihrer Tochter Hanna. Da niemand einen derartigen Verlauf der Geburt erwartet hatte, waren auch sie äußerst bestürzt, meine Großmutter Sieber erfasste bei dem bedrohlichen Zustand ihrer Tochter solches Grauen, dass sie es nicht vermochte, den Anblick der Krampfenden zu ertragen.
 Ganz anders die Mutter meines Vaters: Solange der aussichtslose Kampf meiner Mutter mit dem Tode währte, wichen weder sie noch mein Vater von ihrem Bett, bis Hanna am Mittag des 5. Mai in ihren Armen starb, ohne dass sie noch einmal zur Bewusstheit zurückgekehrt war. Auch im Hospital hatten sich die Ärzte keinen Rat gewusst, die von versagender Nierentätigkeit ausgelösten Krämpfe zu beheben. Vierundzwanzig Lebensjahre waren ihr gegönnt; dann gab sie ihr Leben, und ich erhielt meines.
 Gretchen, meine Großmutter väterlicherseits, in deren Wohnung in der Frankfurter Straße 10 ich geboren war, nahm sich meiner an und auch meines Vaters, der in der ersten Zeit nach Hannas Tod auf alle Leute in dem kleinen Limburg den Eindruck eines Menschen machte, dem man mit einem schweren Hammer gegen den Kopf geschlagen hatte, davon aber seltsamer Weise nicht zusammengebrochen war, sondern sich bewegte und ansprechbar reagierte und sogar seiner täglichen Arbeit nachging, als sei nichts geschehen, und doch abwesend war wie ein ebenfalls Verstorbener.
 Untröstlich war Opa Jean, mein Großvater väterlicherseits, der seine Schwiegertochter geliebt hatte wie sein eigenes Kind. Ihn sahen die Nachbarn zwei Tage reglos auf einem Hackklotz in seinem Schuppen sitzen, wo seine Gärtnergerätschaften an den Wänden hingen und das Holz zum Anzünden des Küchenherdes und des Wohnzimmerofens aufgestapelt war. Dort, in der fensterlosen einstigen Hufschmiede, hockte er, seine erloschene Pfeife im Mund, und summte stundenlang Lieder vor sich hin, unglaublich traurige Melodien, die er selbst erfand und seiner geliebten Hanna aufführte und dann der Vergessenheit hingab. Mit dem dritten Tag begann er dann Kränze zu binden und Blumen darauf zu stecken, Kränze, die die Nachbarn bei ihm in Auftrag gaben, aber vor allem Kränze, einen schöner als der andere, die er bei sich selbst bestellte, weil er sich sagte, er sei der Letzte, der noch etwas Persönliches für sie tun könne.
 Anders verhielten sich Hannas eigene Eltern, die wenige Jahre vorher hilflos den Fieber- und Erstickungstod ihrer an Diphtherie erkrankten jüngsten Tochter Marianne miterleben mussten, und nun den Tod der zweitjüngsten. Hatten Mariannes Krankheit und Sterben sie so tief verstört, dass sie Hannas Erkrankung und Sterben nicht wahrhaben konnten und sich strikt weigern mussten, die Sterbende zu besuchen und die Tote zu ihrem Grab zu geleiten?
 Meine väterliche Verwandtschaft hat dies den Großeltern Sieber nie vergeben; ihr war deren Verhalten ganz und gar unverständlich. Sie hielten vor allem Johanna Sieber für herzlos und verziehen ihr das offensichtlich schimpfliche Verlassen ihrer Tochter in deren größter Not nie wirklich. Dazu kam, dass sie auch mir gegenüber größtmögliche Kühle zeigte und mit äußerst abweisender Strenge auf meine kindlichen Unarten reagierte. Ihre Kälte habe ich nie verstanden, und es dauerte ganze 18 Jahre, bis ich als Abiturient an ihrem Begräbnis in Herborn teilnehmend erahnte, weshalb sie für mich immer die abweisende 'Großmutter' blieb, da ich der Johanna ihre Hanna, ihre liebste Tochter genommen, ihr den größten Verlust ihres Lebens zugefügt hatte.
 Ich muss hier freilich einfügen, dass ich über meinen mütterlichen Großvater Adalbert Sieber aus meinen ersten Tagen wenig zu berichten weiß, ja eigentlich nie erfahren habe, wie er den frühen Tod seiner Tochter aufnahm. Adalbert Sieber war mit Johanna Lenze zum zweiten Mal verheiratet, und aus seinen beiden Ehen hatte meine Mutter drei Halbgeschwister und fünf Geschwister. Ich habe sie nicht alle kennengelernt, hatte aber zu seinen beiden jüngsten Söhnen Joseph, den alle bei seinem Kindernamen Hoppa riefen, und Peter und deren Schwester Hedwig, Hedda genannt, je älter ich wurde, ein desto näheres Verhältnis. Was ich aus meiner mütterlichen Verwandtschaft weiß, weiß ich von ihnen, darunter freilich nichts über seine Reaktion auf Mutters Tod. Und da “Opa Sieber” schon recht betagt war und, als ich erst 2 1/2 Jahre alt war, starb, habe ich selbst keinerlei Erinnerung. Zur 'Oma' wurde mir Vaters Mutter, die mich die ersten beiden Lebensjahre mit aller Liebe und Zuneigung aufzog und - wie mir tagebuchartige Aufzeichnungen meines Vaters überliefern - mit großem Geschick und sehr gutem Erfolg erzog. Litten alle übrigen unter dem tragischen Geschehen, ich gedieh offenbar prächtig.
 Der 7. Mai, ein Sonntag, wurde zum Tag des Begräbnisses meiner Mutter und zugleich zum Tag meiner Taufe. Beides begann gegen 14 Uhr in der Kapelle des St. Vincents-Hospitals, wo meine Mutter aufgebahrt war. So nahm sie wenigstens entfernt an meinem Eintritt ins Christentum teil. Über diese Vorgänge hat natürlich keiner mit mir zu sprechen gewagt, bis nach vielen Jahrzehnten Heini, der damals 18-jährige jüngere Bruder meines Vater, mir mit Tränen in den Augen erzählte, was er damals miterlebte. Zuerst dies, dass nämlich Kaplan König, den ich später als Pfarrer in Bad Ems kennenlernen sollte, zuerst mich taufte. Dabei wirkten Peter Sieber, Mutters jüngster Bruder, und Gretel Schweitzer, Vaters jüngere Schwester, als Taufpaten mit, und man gab mir den Namen Peter Paul, den meine Mutter noch für mich ausgewählt hatte. Dann drehte Kaplan König die weiße Stola auf seiner Schulter zu ihrer violetten Seite um und begann die Totengebete für meine Mutter. Danach trug man den Sarg hinaus auf den Leichenwagen, dem sich drei Messdiener voranstellten und der Geistliche und meine Verwandten folgten.
 Der Leichenzug ging vom einstigen Hospital über den Rossmarkt durch die Barfüßergasse die Böhmergasse hinab zur Plötze durch die Altstadt, und je länger der Weg wurde, desto mehr Freunde und Bekannte schlossen sich dem Zug an. Als er die Altstadt hinter sich hatte und sich auf der schier endlos langen Diezer Straße ganz entfalten konnte - so erzählte mir Onkel Heini - sei erst richtig zu erkennen gewesen, wie groß die Anteilnahme der Limburger gewesen sei. Und über dem Zug habe betretenes Schweigen gelegen; nur das Gemurmel der Gebete habe es zeitweise unterbrochen, aber keiner habe, wie sonst doch üblich, sich zu unterhalten gewagt.
 Viele Jahre später, zu meinem 18.Geburtstag, überreichte mir meine zweite Mutter ein schön in Leinen gebundenes Album, das mein Vater in jenen Tagen begonnen hatte; darin schilderte er für mich, was ich über seine Ehe mit Hanna wissen sollte. In diesem Album fand ich Texte und Bilder über die Herkunft meiner Eltern, über ihre Freundschaftsjahre und die kurze Zeit ihrer Ehe. Am teuersten wurden mir zwei Liebesbriefe Hannas an ihren Willi von 1927 und der Kondolenzbrief einer jüdischen Nachbarsfamilie an meinen Vater wenige Wochen nach ihrer Vertreibung aus Limburg. Aus diesen Texten erhellt der mir vom Schicksal vorenthaltene Segen, der meiner Kindheit ihre Gegenwart bedeutet hätte.
 
Übertragung des handschriftlichen Briefes von Julius Lichtenstein und der als Durchschrift erhaltenen Antworten meines Vaters :
Julius Lichtenstein
Berlin-Charlottenburg I, den 22. Mai 1933
Kaiser Friedrich Straße 84II
Mein lieber Herr Schweitzer !
Erst jetzt erfahren wir von meiner Mutter, welch schwerer Schicksalsschlag Sie in so jungen Jahren und nach so so kurzer glücklicher Ehe bereits getroffen hat. Wir wissen nicht, wie wir Ihnen unser Beileid dazu aussprechen sollen; die Nachricht vom jähen Heimgang Ihrer auch von uns über alles geschätzten teuren Entschlafenen hat uns außerordentlich erschüttert. Wir sehen sie noch vor uns, eine Stunde vor unserer Abreise von Limburg, als wir wegen unserer Rasse und wegen unserer aufrechten Gesinnung verfolgt und verleumdet wurden unter Mißachtung der für sie selbst bestehenden Gefahr aufsuchte, uns gegenübersaß und uns - vielleicht schon in Ahnung ihres trüben Schicksals - eine kostbare Decke zum Geschenk machte, die sie selbst gearbeitet hatte.
Der Abschied fiel uns allen sehr schwer, nicht nur wegen unseres ungewissen Schicksals, sondern auch, weil wir alle unausgesprochen fühlten, welche Gefahr die Geburt für sie bedeutete.
Ein reiner, edler Mensch und ein rührend-edler Charakter ist mit ihr dahingegangen. Nie haben wir , solange wir sie sahen und kannten, irgendetwas Unrechtes, Unwahres, nie eine Spur von Falsch an ihr entdeckt. Wie wenige Menschen hielt sie uns, auch als wir bedroht und verfemt waren, die Treue. Dafür schulden wir ihr für alle Zeiten heißen Dank.
Wenn sie insgeheim sich Sorgen machte, sie würde kein lebendes und lebensfähiges Kind zur Welt bringen, so sind diese ihre Befürchtungen ja zum Glück zerstreut worden; und sie hat in ihrer letzten Stunde noch die Freude und Beruhigung , daß ihr Kindlein lebte und gesund war. Nun müssen Sie, lieber Herr Schweitzer, sich zusammennehmen, um alle ihre Kraft dem Gedeihen Ihres Söhnchens zu widmen; das sind Sie nicht nur dem Kind, sondern in gleicher Weise dem Gedenken ihrer teuren Gattin schuldig. Nichts Besseres kann man dem Kind wohl auf den Lebensweg als Wunsch mitgeben, als daß es ein körperlich vollgesunder Mensch werden, geistig sich ungehemmt zur vollsten Reife entfalten und an Gemüt und Charakter seiner lieben Mutter gleichen möge. Aber lassen Sie das Kind nicht in zuviel Traurigkeit und Kummer aufwachsen, sondern machen Sie ihm seine Kindheit und Jugend so licht und froh, wie das in den jetzigen schweren Zeiten irgend möglich ist; denn er soll doch ein tapferer, ruhiger, ausgeglichener Mensch werden. Es ist ohnehin traurig genug für ein Kind, wenn es von klein auf ohne Mutter - und zumal ohne eine solche Mutter - aufwachsen muss.
Sprechen Sie unser Mitgefühl bitte auch den lieben Eltern und Geschwistern der Verstorbenen, vor allem auch ihrem von ihr wohl besonders hoch geschätzten und von uns stets sehr wert gehaltenen Bruder Rechtsanwalt Josef Sieber, aus!
Ich hoffe, recht bald von Ihnen Gutes über das Gedeihen und die Entwicklung Ihres Söhnchens zu hören; wir würden uns über ausführliche Nachrichten sehr herzlich freuen.
Vielleicht könnten Sie sich bei Herrn Kaufmann Adolf Leopold , Obere Schied 6, erkundigen, ob unter den Sachen, die er für uns aufbewahrt, sich auch die Kinderwaage befindet. Sie ist fast neu und könnte Ihnen doch gute Dienste leisten. Sollte sie dort untergebracht sein, dann lassen Sie sie sich bitte unter Berufung auf uns herausgeben! Sie dürfen sie benutzen und behalten. Für uns ist sie ja doch nicht mehr benutzbar, da wir in der nächsten Zeit ja nicht nach L. (Limburg) zurückkommen. Ihnen, dem Kleinen (Wie heißt er übrigens?) und allen lieben Ihren das Allerbeste!
Ihre getreuen Lichtensteins.
Lieber Herr Schweitzer !
Die Nachricht vom Tode Ihrer auch von mir so geschätzten Frau hat mich tief erschüttert. - Was macht das kleine Bübchen? Schreiben Sie uns bitte bald einmal! Ihnen und dem Kleinen wünsche ich alles Gute !
Ihre getreue Elisabeth Lichtenstein.
 II
 Ein Tageebucheintrag
 Samstag, 17.8.1996
 

Mit Elisabeth, die aus England gekommen und in Gertruds Haus während deren Ferien ihren Urlaub verbringt, mit ihren drei Kindern und den dreien ihrer Freundin Becky und mit Lioba wanderten wir entlang dem Lahnhöhenweg von Weinähr im Gelbachtal hinüber nach Nassau. Der Gruppe lief Bella voraus, nach Hundejahren 77 zählend, während Irmingard und ich am Schluss gingen. Es war mittäglich heiß; die Tonschieferhänge strahlten ihre gleichmäßige Wärme auf uns, und die trockenen Bäume und Büsche erfüllten mit süßen Aromen und Harzduft den lichten Sommerwald. Nach einer Kletterpartie auf die Hohe Ley liefen die Kinder uns ausgelassen voraus, versteckten sich hinter Felsen oder in einer Schutzhütte und waren ganz glücklich, wenn wir Älteren, die ein wenig langsamer gingen, ihr Versteck passierten ohne sie zu bemerken. Zwar machte Bella, uns jedesmal überdeutlich auf die Versteckten aufmerksam, aber das durften wir nicht verstehen; sonst wäre die Neckerei vorbei und das Spiel aus gewesen. In Nassau rasteten wir auf der Terrasse der Stadthalle bei einem Glas Saft oder Cola und einem Becher mit drei Eisbällchen, deren variantenreiche Zusammensetzung zu einer verwirrenden Bestellung führte, denn es standen Zitronen-, Waldmeister-, Schokoladen-, Vanille-, Nuß- und Erdbeereis zur Auswahl. Die junge Kellnerin aber wusste sich zu helfen; sie legte das Bestellblöckchen mit einem Stift auf den Tisch und forderte die Kinder auf, ihre Wünsche aufzuschreiben. Auf dem Rückweg bescherte uns die sinkende Sonne einen schönen Ausblick über das Lahntal und auf Burg und Stadt Nassau, indem sie die Lahn erglänzen ließ, die Burg mit Gegenlicht umkränzte und die Stadt in tiefe Schatten tauchte. So wurden auf dem noch verbleibenden Rest des Weges die Gespräche leiser und die Kinder stiller. Dazu mochte auch die zunehmende Wandermüdigkeit ihren Teil beitragen, sie wich aber noch einmal von uns, als wir nicht weit vom Ausgangspunkt der Wanderung entfernt der Burg Langenau im Tal und der Klosterkirche Arnstein auf der gegenseitigen Lahnhöhe ansichtig wurden, zu der wir auf der Heimfahrt von Obernhof aus einen kleinen Abstecher machten. Kloster Arnstein - hatten wir nicht erst vor wenigen Wochen den von Guda, der Gräfin von Arnstein verfassten Marienleich gelesen und betrachtet ?

sint du daz kint gebäre

bit alle du wäre luter unde reine

van mannes gemeine.

swenen so daz dunket

unmuglich der merke daz glas

daz dir is gelich.

daz sunnen licht scinet

durch mitten daz glas

iz is alinc unde luter sint

als iz e des was.

durch daz alinge glas

geit iz in daz hus

daz vinesternisse verdrivet iz dar uz.

Wo mag die Klause gewesen sein, in die sich Guda zurückzog, als Ludwig, ihr Mann, 1139 seine Burg in ein Kloster umbauen ließ, es den Prämonstratensern übergab selbst dort eintrat und bis 1185 als Laienbruder dort lebte? Unter welchen Umständen mag sie den Marienlaich geschrieben haben,? Vielleicht als die Brüder die ersten Glasfenster für ihre Kirche bemalten, brannten und einsetzten? da schau das Glas, das dir gleicht! Als wir am Kloster vorbei zum Kirchenportal gingen, sah Irmingard Reiskörner auf dem Wege liegen, und Rhiannon entdeckte eine kleine, noch frische Rosenblüte. Nachmittags war hier also eine Trauung gefeiert worden.. Eine Trauung. Als ich die Kirche betrete, über das romanische Fußbodenmosaik gehe und seine schwarzen und weißen, kreisförmig angeordneten Fließen, vielfach spiegelsymmetrisch aufeinander bezogen, eine kleine harmonia mundi fällt mir die Eheschließung meiner Eltern ein, 1932 im Juni in dieser Kirche, an einem Freitag, vor mehr als 54 Jahren.

Was weiß ich von dieser Ehe? Was von ihrem Schwarz und Weiß? Was von den 329 Tagen, die diese Freitagsehe nur währte? Und was von mir, der ich aus diesen 329 Tagen stamme?

Da kommen die Kinder in die Kirche, erfüllen mit gedämpften Stimmen die Gewölbe, und alle freuen wir uns, als der Küster herbeieilt und uns von der Geschichte des Klosters und der Kirche erzählt. Zwischendurch schaltet er die Glocken zum Einläuten des Sonntags ein und öffnet uns eine Tür zum alten Klostergarten, damit wir hören können, dass das Geläut in das Gotteshaus hereinweht wie ein sanfter Abendwind.

 III
 Meine zweite Mutter, Luise Drost, geboren am 16. 4. 1911, stammte aus Werden, der Stadt an der Ruhr, die aus dem Kloster des hl. Ludger hervorging. Seine Gebeine ruhen in einer frühromanischen Krypta unter dem Altar der spätromanischen Probsteikirche, und die Werdener nennen sein über tausendjähriges Grabgewölbe „die Kluft“. Hier ist alles ernst und ursprünglich - und dieses Heiligtum prägte früh den Ernst von Mutters Religiosität. Dagegen sagten ihr die barocken Festlichkeiten und Umzüge zu Ludgers Ehren, von denen sich viele zu einer oberflächlicheren Frömmigkeit verleiten ließen, ebenso wenig zu wie die mannhaft feuchtfröhlichen Gelage und ausschweifenden Altweiberfastnachten, die unter jungen Leuten ihrer Generation so beliebt waren.
 Das lag aber auch an den zwei unvereinbaren Wesenszügen, die ihre Eltern prägten, und mit denen sich ihre Tochter Luise auseinandersetzen musste: Ihr Vater, Heinrich, ein Werdener Schreinersohn aus einstmals niederrheinischem Beamtenadel, von dem er freilich nur noch den Namen Drost, d. h. Truchsess, weitergeben konnte, zeigte eine betont konservative Haltung. Und zwar deren damalige wilhelminische Sorte, der es keinen Abbruch tat, dass Heinrich sich im Manöver die Hüfte verrenkte, diese sich entzündete, weshalb er mit lebenslangem Gehschaden aus dem Militärdienst ausscheiden und beim Werdener Gericht mit einer Schreiberstelle versorgt werden musste. Dort wirkte er mit hohem Ansehen und geringem Einkommen, das er sich aber nebenbei als Versicherungsvertreter mehr als verdoppelte. So konnte die Familie gut bürgerlich leben, was die weit über einfache Verhältnisse hinausgehende Wohnung in der Beletage im Haus Ludgerusstraße Nr. 8 jedermann deutlich vor Augen führte und er nebenbei auch noch seinem mit Eifer und Geschick betriebenem Fotografieren nachgehen.
 Ihre Mutter war gegensätzlicher Natur: Pauline Christine Johanna Friederike Schäfer, Tochter aus einer Werdener Möbelhandlung, war ein kleines, selbstbewusstes, schlagfertiges Persönchen, nannte sich kurzerhand Paula, und machte im just aufstrebenden Kaisers-Kaffeegeschäft eine Handelslehre, und dies so perfekt, dass man ihr, als sie die Prüfung zur Gehilfin bestanden hatte, die Gründung und Einrichtung einer Filiale in Heilbronn am Neckar auftrug.
 In ihrer Ehe mit Heinrich, der drei Kinder, Max, Luise und Ernst, entstammten, zeigte sie die gleiche resolute Entschlossenheit wie im Heilbronner Geschäftsleben; sie war und blieb der bestimmende Mittelpunkt, erst recht nach Heinrichs Tod, der ihn, mit Lungenentzündung bettlägerig, 1942 während eines Fliegeralarms ereilte. Oma Paula bewahrte auch im Laufe des Krieges und der Nachkriegszeit, und das unter den beengten Wohnverhältnissen im unsagbar durch Bomben zerstörten Ruhrgebiet, ihre resolute und herzliche, immer humorvoll-hilfsbereite Art.
 Ihre Tochter Luise besuchte die von Nonnen geführte Marienschule in Werden; sie absolvierte nach Erlangung der Mittleren Reife auch deren Kindergärtnerinnen-Seminar und Frauenschule. Im Gegensatz zu ihren Brüdern war sie auf ihrem Bildungsweg immer erfolgreich, jedoch eine problematische Schülerin, die die allzu menschlichen Schwächen ihrer Lehrer und die unmenschlichen Seiten des sehr autoritären Schulsystems durchschaute und ihre frommen Verhüllungen bloßlegte, was ihr natürlich Feindschaften eintrug, sowohl von den Blamierten wie von deren speichelleckenden Nutznießerinnen.
 Gleichzeitig beobachtete sie die damals in der historischen Abtei Werden eingerichteten Zweige der Essener Folkwang-Schule und hätte gerne dort einen Mal- und Zeichenkurs belegt, was aber ihrem Vater wenig wünschenswert erschien. So blieb dieser Wunsch unerfüllt – und ihre Neigung zu bildhafter Gestaltung ohne Ausbildung, von gelegentlicher Mithilfe in Vaters Dunkelkammer abgesehen. Sie musste sich vielmehr in der Arbeitslosigkeit der späten 20-er und frühen 30-er Jahre trotz ihrer Befähigung zur Leitung eines Kindergartens, Hortes oder Heimes auf unbezahlten Praktikantinnenstellen der Stadt Essen in einem Kinderheim auf Borkum, dann in einem Kindergarten der Marienschwestern in Köln-Kalk, danach gegen ein Taschengeld bei freier Kost und Logis als Erzieherin in Familien in Köln-Kalk und Limburg durchschlagen.
 In Limburg stand sie wie alle Zeit in diesen Jahren in regem Briefverkehr mit ihrer Mutter, und dieser brachte ihr, wenn sie ihre Briefe in den Postkasten vor der Parkstraße 17 einwarf, ihre ersten Begegnungen mit einem finster und bitter dreinschauenden jungen Mann aus der Parkstraße 19. Dessen Geschichte erfuhr sie bald: Er, Willi Schweitzer, ein Angestellter der Stadt, habe unlängst seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes verloren und vergrabe sich nun in Aktenbergen und Fortbildungswerken, wenn er nicht sein Söhnlein Peter Paul im Kinderwagen ausfahre. Als sie ihm kurz darauf bei der Stadtverwaltung ihre Lohnsteuerpapiere vorlegen muss, ist sie ziemlich verärgert, wie umständlich er sie bedient; doch schon bald darauf hat sie ihre Stelle aufgegeben und kann sich für immer im Rathaus abmelden und nach Werden zurückkehren, weil sie sich nun doch noch um einen Studienplatz an der Folkwang-Schule bewerben will.
 Umso mehr überrascht es sie, dass sie, nach Werden zurückgekehrt, dort von diesem seltsamen Gesellen einen persönlichen Brief erhält, auf den sie - natürlich sehr höflich - abweisend antwortet. Doch Willi Schweitzer erweist sich als hartnäckig, zudem hat er bei Verwandten in Wuppertal einen Mantel liegen gelassen, und das bietet doch einen verständlichen Grund, zufällig mal in Werden vorbei zu schauen und – vielleicht von ihr geführt - diese schöne Stadt kennen zu lernen ...
 Nun steckte im Schicksal Willis solche Tragik, dass Luise ihn schlecht abweisen konnte, und die zwei oder drei Tage, die Willi in Werden blieb, brachten - für sie ganz unerwartet - die beiden einander näher. Das letztlich entscheidende Gespräch fand in der Essener GRUGA statt, und so lange Mutter eine eigene Wohnung hatte, hing dort ein Bild dieser Gartenanlage an wichtiger Stelle.
 Wie konnte es zu dieser unerwarteten und plötzlichen Einigung kommen? Ein Grund lag sicher in Willis verzweifelter Situation, ein zweiter in Mutters Religiosität, die verlangte, das Leben in allem christlichen Ernst zu bestehen. So fragte sie sich, ob nicht alle ihre Erlebnisse und Interessen und besonders ihre Ausbildung sie genau an diesen Punkt geführt hätten, an dem sich nun ein wirkliches Betätigungsfeld vor ihr auftat.
 Das Glück fügte von beiden Seiten zärtliche Empfindungen füreinander hinzu – und sehr bald wurden die drei eine Familie. Natürlich gab es in der Stadt das Geunke, eine solche rasche Verbindung enthalte zu viele sie auf die Dauer gefährdende Elemente und könne keinen Bestand haben. Und als Peter Pauls mütterliche Verwandten das “selbstverständliche Angebot“ unterbreiteten, ihn auf ihre Kosten in einem Waisenhaus zu versorgen, lehnte das Luise empört ab; vielmehr verband sie von Anfang an ihr Schicksal mit beiden, Willi und seinem Kind, und heiratete beide, wie sie oftmals im Ernst scherzte.
 Das war ein großes Glück für alle Beteiligten, zu dem dann 1936 Günter hinzukam, dazu noch anderthalb Jahre des beruflichen Aufstiegs und eine Wohnung am Südrand der Stadt mit wogenden Getreidefeldern unmittelbar vor den Fenstern und Türen. Erste Schatten zeigten jedoch schon gegen Ende 1936 die Wende zur familiären Katastrophe an: Willi erlitt des Nachts eine Darmblutung und musste sich in einer riskanten Operation eine Geschwulst aus dem Enddarm entfernen lassen, deren Beschaffenheit keine Zweifel an ihrem bösartigen Charakter zuließ. Luise erfuhr dies zwar, nicht jedoch, dass die Geschwulst bereits gestreut habe und Willis Leben deshalb kurzfristig enden werde.
 Luise versuchte sich tapfer und mit dem ihrer Mutter abgeschauten Optimismus gegen die die Familie bedrohende schwarze Wand zu stemmen. Letztlich vergeblich; nach einer Kur Willis in Bad Mergentheim traten bald Leberbeschwerden auf, die nach der Jahreswende 37/38 eine Behandlung in der Uni-Klinik Frankfurt erforderte, währen der Willi im März 1938 starb. Er hatte sein 31. Lebensjahr nicht vollendet, und Luise stand noch in ihrem 26.
 Als sie vom Sterbebett ihres Mannes nachts von der Klinik zurück zum Bahnhof ging, überquerte sie auf dem Eisernen Steg den Main. Dabei empfand sie, dass die große Brücke unter ihren Schritten bebte und schwankte und sie hoch und herab schleuderte – oftmals erinnert in den folgenden Jahren ihres langen Lebens.
 Noch fast 70 Jahre sollte dies Leben hiernach währen, in denen sie tapfer zu ihren beiden Kindern stand, ihnen Freude und Glück und eine gute, herzlicher Religion zugewandte Erziehung und Ausbildung zu vermitteln trachtete. Die veränderte Lebenslage brachte gewiss Entbehrungen und lange Jahre sehr bescheidener Lebensführung, aber später auch Großmutterfreuden, Reisen und in ihren letzten Jahrzehnten eine Rückkehr zu ihrem Jugendtraum, dem Malen.
 Dies alles ist von ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis wahrgenommen und bewundert worden, aber dies war - leider - kein ungewöhnliches Frauen-schicksal und wurde ähnlich vielen Frauen und Müttern ihrer Generation abverlangt, wenn auch vielleicht nur von wenigen so gut wie von ihr gemeistert. Davon haben wir, Peter Paul und Günter, profitiert.
 Sie hatte Angst um uns, als der Krieg ausbrach, und knüpfte ältere Verbindungen zur Leitung eines privaten Kinderheimes in Oberstdorf an, ging dort für ein halbes Jahr in Stellung – und wir erlebten einen phantastisch schönen Herbst und Winter im Hochgebirge des Allgäu. Zurück in Limburg begannen bald die Luftangriffe, vor denen sie uns schützen wollte, und wir verbrachten einen weiteren Sommer mit herrlichen Erlebnissen in Oberstdorf und noch 1943 ein weiteres Sommerhalbjahr in den Kärntener Alpen, diesmal bei den Eltern eines Frontkameraden ihres Bruders Ernst. Das letzte Kriegsjahr waren wir in Limburg und erlebten die Luftangriffe alle mit; für uns Jungen waren das höchst spannende und interessante Zeiten. Ein Glück war nur, dass sie nicht von allem erfuhr, in das wir unsere vorwitzigen Nasen steckten; aber was ihr Nachbarn, die ihre Sorge und Angst um uns ja kannten, berichteten, reichte aus, sie ständig in Nöten zu halten.
 Dazu kamen die immer häufigeren und immer längeren Tag- und Nachtzeiten, die sie mit uns in den zu Bunkern umfunktionierten nassen Bergwerkstollen im Tal Josaphat verbrachte, wo wir auch das Kriegsende und den Einzug der Amerikaner erlebten.
 Ungewöhnlich war auch ihr Verhalten gegenüber der Öffentlichkeit: In den Willis Tod folgenden Jahren entfaltete der Hitlerstaat seine satanische Herrschaft, dessen Verführungen sie nicht erlag und dessen Unmenschlichkeiten sie niemals beipflichtete, ja im schmalen Rahmen ihrer Möglichkeiten widerstand. Aber auch manchen Entwicklungen der Nachkriegszeit stand sie reserviert gegenüber und machte – als fleißige Zeitungsleserin – oft genug ihrem Unmut durch gepfefferte Leserbriefe Luft.
 Briefe waren überhaupt ihr eigenstes Metier, und dieses wusste sie souverän zu handhaben. Als sich ihr Ältester als Pimpf im Jungvolk anhören musste, die Juden seien alle Verbrecher und gehörten am nächsten Baum aufgeknüpft, widersprach das so sehr den Lebensprinzipien unseres Elternhauses, dass er prompt dazwischen rief: „Quatsch! Juden sind doch Menschen wie wir auch“ - worauf natürlich eine Kanonade wüster Beschimpfungen auf ihn niederprasselte. Davon erzählte er zu Hause seiner Mutter, die nach einigen Erkundigungen dem in Limburg residierenden HJ-Bannführer brieflich klipp und klar ankündigte, sie werde ihrem Jungen die Teilnahme an Veranstaltungen des Jungvolks nicht mehr gestatten, wenn solche Äußerungen – zumal vor Kindern – sich wiederholen sollten. Der Bannführer entschuldigte sich daraufhin schriftlich und versicherte, er werde dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder vorkomme.
 Das tat es auch nicht, denn bald schon fanden wegen der gegen Kriegsende zunehmenden Luftangriffe keine Veranstaltungen des Jungvolkes mehr statt, und das Büro des HJ-Bannes fiel bei einem Bombenangriff in Trümmer. In diesen Trümmern überlebte aber Mutters Brief und diente 1946 oder 1947 in einem Prozess der Limburger Spruchkammer als Beweismittel gegen besagten Bannführer. So musste die Briefschreiberin als Zeugin vor Gericht, das einzige Mal in ihrem langen Leben, und sagte wahrheitsgemäß aus, der angeklagte Bannführer habe persönlich nichts mit der Sache zu tun gehabt, sich aber für das Vorkommnis, das sich auch nicht wiederholt habe, entschuldigt.
 Als dann aber das Urteil verlesen wurde, diente in dessen Begründung Mutters Brief als Beweis für des Angeklagten antisemitische Haltung. Hier unterbrach Mutter den Richter mit den Worten, sie habe doch genau das nicht bestätigt, - was nicht nur dazu führte, dass sie aus dem Gerichtssaal entfernt wurde, sondern auch dazu, dass das Urteil in der Revision keinen Bestand hatte.
 Bestand hatte aber bis zu ihrem letzten Atemzug, den sie im hohen Alter von 97 Jahren am 25. September 2007 tat, unsere Hochachtung vor der aufopfernden Treue in ihren jüngeren Jahrzehnten. Wir waren und bleiben von Herzen dankbar ihre Kinder.

  Frühe Erinnerungen

 Wenn ich mich heute im Alter frage, was ich als früheste Erinnerung in mir finde, so ist es vor allem mein Großvater Jean, der mir als großer schlanker Mann vor dem inneren Auge steht, eine starke Brille vor den Augen, einen kräftigen Schnauzbart im mageren Gesicht, die unvermeidliche lange Pfeife im Mund und mit seiner grünen Gärtnerschürze bekleidet. Die anderen Handwerker trugen blaue Schürzen umgebunden, die Kaufleute graue Kittel, aber mein Opa war Gärtner und trug grün.
 Freilich nicht immer; denn, wenn er Sonntags zu uns in die Parkstraße kam, wo wir bis 1938 wohnten, kam er in einem flotten dunklen Anzug. Das hielt ihn aber nicht ab, mich auf die Knie zu nehmen und 'Hoppe, hoppe, Reiter' machen zu lassen, und wenn das nach längerem Gehopse seinen Reiz zu verlieren begann, mich zu fragen: “Wohin geht der Opa mit dem Paulchen jetzt ?” Darauf antwortete ich: “Opa,Tufftuff gucken” und leitete damit eine Zeremonie ein, die uns beiden großen Spaß versprach.
 Opa Jean setzte mich auf seine Schultern und trug mich, sich mit mir unterhaltend, durch Park- und Weiersteinstraße zum Bahnhof. Dort stellten wir uns an den einstigen Bahnübergang und sahen den in den Bahnhof einlaufenden und ihn verlassenden Zügen zu, den riesigen Dampfloks mit ihren Tendern und den vielen, vielen Wagen und auch den Triebwagen, die kaum hatten sich die Schranken geschlossen, schon vorübergehuscht waren, so dass die Schranken schnell wieder hochgedreht wurden.
 Wenn dem Opa sein Paulchen auf den Schultern zu schwer wurde, versuchte er ihn zu überreden, nach Hause zurückzukehren. “Paulchen laufen” bot ich ihm dann an, und Opa Jean ging dann geduldig mit mir zurück. Am Ende der Weiersteinstraße , kurz vor der Bäckerei, in der es die guten roten Himbeerbonbons gab, wenn wir dort einkauften, stellte ich mich dann meinem Großvater in den Weg und sagte mit flehentlichem Blick zu ihm hinauf :”Opa, Tufftuff gucken”. Und das löste bei meinem überaus gütigen Großvater zwar zunächst einen Seufzer aus, aber dann doch das Erbarmen, dass er dem Bub die Bitte doch nicht versagen konnte, worauf sich die ganze Zeremonie wiederholte.
 Als der Opa danach zum zweiten Mal mit dem Dreikäsehoch zur Bäckerei kam, in der es Gott sei Dank nur werktags rote Himbeerbonbons gab, und sich ein erneutes “Opa,Tufftuff gucken” ankündigte, erklärte Jean seinem Enkel, er müsse jetzt nach Hause zur Oma Gretchen, er bekomme sonst geschimpft, weil das Essen kalt würde. Ich weiß nicht, ob ich dafür Verständnis zeigte; mir hat man später nur erzählt, das Opa Jean, auch wenn er sonntags frühzeitig genug vom 'Tufftuff Gucken' zurückkam, jedes Mal geschimpft bekam : “Jean, hab ich dir nicht schon oft genug gesagt, du sollst den Bub nicht immer auf die Schultern nehmen ? Du hast doch nur den einen guten Anzug, musst du dir denn immerzu verdrecken lassen ?”
 Vor nun ziemlich genau 75 Jahren trug mich derselbe Jean auf den Schultern die Treppen vom Bischofsplatz zum Dom hinauf, obwohl ihm das gewiss schon schwerfiel. Dennoch blieb er mit ihm erst zwischen Pfarrhausmauer und südlichem Nebenportal stehen, nicht weil ihm die Puste ausging, sondern weil er mir einen Spaß machen wollte. Denn dort stand der Hahn vom Domturm abgeseilt auf der Erde, über mannsgroß, und wartete auf einen neuen Anstrich, weil er doch zum 1935-er Domjubiläum wieder golden glänzen sollte. Und da Jean ein überaus lieber Opa war, hob er mich von seinen Schultern und setzte mich dem Gickel auf den Rücken, was bei mir natürlich ein jauchzendes Vergnügen auslöste.
 Nun, ich rutschte und kletterte eine Weile auf dem geistlichen Federviehdenkmal herum, bis einer der Domkapläne aus dem Pfarrhof kam, stehenblieb und zum Großvater sagte: „Wenn der Junge groß ist, kann er allen Leuten erzählen, er habe als Kind schon oben auf dem Domhahn gesessen. Dann wird man ihn ungläubig bestaunen. Nur muss er natürlich verschweigen, dass der Hahn dafür extra heruntergeflogen war." Verschmitzt darauf Großvater Jean: „Aber sagen darf er doch, dass für das Schauspiel extra der König hinzukam und stehenblieb und seinen Gefallen daran hatte.“ Da lachte der Kaplan, der König hieß und mich ja auch getauft hatte.
 Aber mein Großvater Jean hinterließ mir, als er schon anfangs 1937 starb, nicht nur solche wunderbaren Erinnerungen, sondern auch Verwandte und Bekannte, die immer nur Gutes über ihn sagten. Wer ihn gekannt hatte, pries seine Güte und Freundlichkeit, und was ich als Erwachsener noch an Spuren von ihm fand, bestätigte dieses Lob.
 Er stammte aus sehr bescheidenen Verhältnissen, geboren 1878 in Gau-Algesheim, Auf dem Kegelplatz 7. Sein Vater Philipp war Schuhmachermeister und stürzte 1903 im Alter von 61 Jahren, als er einen Bruder Jeans in Mainz besuchte, wo dieser das Bahnhofsrestaurant betrieb, so unglücklich die Kellertreppe hinab, dass er sofort verstarb. Zu dieser Zeit hatte Jean bereits die seiner schwachen Augen wegen gemachte Gärtnerlehre vollendet, seiner Militärpflicht genügt und wohnte in Mainz bei seinem Bruder.
 Aus seiner Militärzeit, die er 1899-1901 vor allem in der Festung Straßburg verbrachte, verwahre ich noch bis heute das einzige Buch, das mein Großvater Jean verfasste,.: Es ist in wunderbar klarer Handschrift geschrieben, 248 Seiten stark und gibt den gesamten Lehrstoff wieder, den er in seiner Ausbildung als Telegraphist zu bewältigen hatte. Mit großer Klarheit beschreibt er darin die Geräte und technischen Zusammenhänge, die er sowohl für das Morsen wie auch für das Telegraphieren begreifen und beherrschen musste. Wenn ich mir dieses alte, vielfach benutzte Handbuch ansehe, verstehe ich, woher mein Vater Willi die Gabe hatte, Gegebenheiten und Zusammenhänge klar und durchsichtig zu beschreiben und woher mein Onkel Heini sein Interesse und seine Begabung für Elektrotechnik und Elektronik.
 Seine Tochter Gretel, meine Tante, die ihren Vater besonders liebte, erzählte mir manche Geschichte von meinem Großvater Jean. So aus seinen Mainzer Jahren, dass von der Gärtnerei, in der er arbeitete, regelmäßig Blumen in die Oper und ins Schauspielhaus in Mainz für die Sänger und Schauspieler gebracht werden mussten, was natürlich einer gerne tat, weil man lange nach Feierabend lieber anderen Interessen nachging. Alle waren deshalb froh, dass sich der Jean dafür freiwillig 'opferte', und so sich nicht nur ein kleines Taschengeld verdiente, sondern dazu immer wieder und auch zu den schönsten Premieren umsonst in die Oper und in das Schauspielhaus kam, wo er hinter den Kulissen alles aus nächster Nähe miterlebte. Noch in seinen letzten Jahren, als ihm die politische Entwicklung einen Volksempfänger bescherte, habe er bei Fastnachtssendungen und Opernmusik im Radio immer strenge Ruhe in der Küche verlangt und stundenlang in größter Andacht 'Mainz' gelauscht.
 Des Musketiers Schweitzer Schreibkünste waren unter seinen Kameraden im Regiment 7/143 in Straßburg so bekannt, dass manch ein im Schreiben weniger Bewanderter ihn bat, für ihn die Briefe an seine Lieben oder auch an seine Liebste zu schreiben. Jean setzte dann seine Brille auf, holte sich Papier, Federhalter und Tintenglas aus seinem Spind, und ließ sich am Tisch in der Stube nieder, die damit vorübergehend zu seiner Schreibstube wurde, in die einer nach dem anderen kam, um seine delikaten Wünsche und Grüße zu Papier bringen zu lassen.
 Einmal hatte sich ein Kamerad ihm gegenüber niedergelassen, und als Jean ihn mit gezückter Feder erwartungsvoll anblickte und sagte: “So, dann diktier' !” sprang der Angeredete empört auf und brüllte den überraschten Jean an: “Nix da, dick Tier ! Lieb' Liss, sollst du schreiben!”
 Im Ganzen gibt die kleine Geschichte aber doch das kameradschaftliche und freundliche Verhalten des Großvaters wieder, was sich auch aus den zwei oder drei Fotos ergibt, die sich von ihm außer einigen Familienfotos erhalten haben. Diese zeigen jeweils eine Reihe etwa gleichaltriger Männer in Arbeitskleidung mit Schaufeln und Spaten, Rechen und Hacken, und seitlich von ihnen Jean, gleichfalls mit seinem Arbeitsgerät. Erst nach einigen Recherchen fand ich heraus, dass die Bilder aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammen. Damals war mein Großvater Jean - wegen seiner schlechten Augen nur bedingt wehrfähig - zur Reserve eingezogen worden und tat im Freiendiezer Kriegsgefangenenlager Dienst. Die Bilder zeigen ihn neben den Gefangenen, mit denen er als Gärtner den Kriegerfriedhof in Dietkirchen anlegte und gestaltete, und wer es nicht weiß, findet außer in einigen Bekleidungsdetails keinen Unterschied zwischen den Gefangenen und ihrem Wächter. Nach allem, was ich weiß, waren ihm Vorurteile fremd.
 Als sich gegen Ende 1936 sein Magenleiden verschlimmerte, riet ihm Dr. Weinholt, der mir das nach dem 2. Weltkrieg selbst erzählte, mehrmals zur Operation: “ Aber die schob Ihr Großvater lange vor sich her, und dies aus mir durchaus verständlichen Gründen. In der Familie begründete er sein Zögern gerne damit, erst müsse er noch das Karussell fertig basteln, das er Ihnen zu Weihnachten schenken wollte. Aber das wurde nicht mehr fertig, und Weihnachten musste er ins Krankenhaus, und als man ihn operierte, zerfiel sein Magen wie ein zu lange gekochter Blumenkohl unter dem Messer.” Er starb am 5. Januar 1937.

  Nur noch schwarze Tücher über dem ganzen Land

 I

 Da auch mein Opa Adalbert Sieber, der Vater meiner Mutter, schon zwei Jahre früher am 19. Dezember 1935, gleichfalls an Krebs gestorben war, breitete sich in unseren Familien eine ausgesprochene Krebsfurcht aus, wusste man doch in keinem der beiden Fälle etwas über auslösende Ursachen. Nun, Opa Sieber war immerhin 75 Jahre alt geworden und hatte ein großes Leben hinter sich gebracht, worüber ich später noch erzählen will.
 Seinem Tod waren aber zwei Krankheitsfälle in unseren Familien vorausgegangen, die das Zutrauen in die Ärzteschaft, sowohl in ihr Können als auch in ihre Integrität sehr erschüttert hatten. Da war 1932/33 die unerkannte Nierenerkrankung meiner Mutter Hanna, die während meiner Geburt zu ihrem dramatischen Tod geführt hatte. Diesem Fall war aber eine weitere Katastrophe vorausgegangen:
 Meine Großmutter Gretchen Schweitzer hatte sich nach einer längeren Vorgeschichte mit Unterleibsblutungen im Juli 1929 zu einer Operation ins Limburger St. Vincenz Hospital begeben. Die Entfernung der Gebärmutter schien zunächst komplikationslos verlaufen, wenn auch linksseitig sie zunehmende Schmerzen quälten und nach 14 Tagen ein ständiges Harnträufeln aus der Scheide diagnostiziert werden musste. Der Operateur, ein Dr. Tenckhoff, bestand darauf, dass die Operation von ihm fehlerfrei ausgeführt und beendet worden sei; es müsse sich danach eine Fistel gebildet haben, was bei solchen Operationen nicht selten vorkomme. Er riet dazu, mit Hilfe von Röntgenstrahlen ihre linke Niere zu auszuschalten, was mit Sicherheit dem lästigen Harnfluss ein Ende bereite.
 Meine damals 46-jährige Großmutter ließ sich von verschiedenen Ärzten beraten, und da diese sich unsicher äußerten, zögerte sie die ihr empfohlene Behandlung aber zunächst hinaus, weil sie sie fürchtete. Schließlich wurde aber das Leiden, und in seiner Folge ein ständiges Wundsein so unerträglich, dass sie sich zur Bestrahlung ins St. Vincents- Hospital begab. Dort bestrahlte ihr Dr. Tenckhoff zweimal aus jeweils vier Richtungen die linke Niere. In einem Brief meines Großvaters Jean lese ich:
 
Die Auswirkungen dieser Bestrahlungen waren derart, daß man glauben konnte, einen im höchste Delirium und sterbenden Menschen vor sich zu haben, daher auf Anraten des Hausarztes der Empfang der heiligen Sterbesakramente veranlasst wurde und durch Herrn Kaplan Born erfolgte.,,,
 Damit endeten die Leiden meiner geliebten Großmutter aber nicht, sondern begannen sich erst eigentlich zu entfalten. Als sie sich etwas erholte, genehmigte man ihr im März 1930 eine vierwöchige Erholungskur in einem Schwesternhaus in Hofheim. Dort erhoffte sie sich eine Kräftigung ihrer Gesundheit und eine Ausheilung ihres Nierenleidens; es trat jedoch das genaue Gegenteil ein. Die Schmerzen an der Seite vermehrten sich, ebenso das Harnträufeln, und dazu trat nun auch noch Fieber hinzu. Die Schwestern in Hofheim waren ratlos und schickten meine Großmutter nach Gießen in die Universitätsklinik.
 Die Untersuchungen in Gießen ergaben, dass der linke Harnleiter bei der Operation durchtrennt worden und anschließend beigenäht worden war. Der Chefarzt äußerte sich der Oma und später meinem Opa gegenüber so, dass die Großmutter Glück gehabt hätte, wenn der Harnleiter noch offen hinge. Damit meinte er wohl, dass er dann die durchtrennte Stelle noch in ihrem aktuellen Zustand zu nähen versucht hätte. Da jedoch die Niere und ihre Umgebung durch die Bestrahlung verbrannt wäre, blieb es bei einer medikamentösen Bekämpfung der Infektion. Erst nach längerer Zeit besserte das die Situation, aber die Schmerzen bestanden noch lange Zeit fort, und die Inkontinenz belastete bei den damals nur in bescheidenem Maße zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln in den folgenden Jahren das Befinden und die Arbeitsfähigkeit meiner Großmutter und ganz besonders ihr Familienleben.
 Schon in Gießen hatten die Klinikärzte der Großmutter empfohlen, nach ihrer Heimkehr mit dem Limburger Chirurgen ein Gespräch zu suchen, der müsse doch über seine Haftpflichtversicherung in der Lage sein, ihr wenigstens für die Belastungen, die ihrer doch in äußerst bescheidenen Verhältnissen lebenden Familie durch die Krankheit der Mutter entstanden waren, eine angemessene Entschädigung zu erwirken. Das versuchten mein Großvater und mein Vater in einem Gespräch mit Dr. Tenckhoff, der sich in diesem Gespräch zunächst zugänglich zeigte, dann aber Ausflüchte suchte und später und bis zuletzt bestritt, den Harnleiter durchtrennt und beigenäht zu haben.
 Die Großeltern hätten schon in einer kleinen Abfindung eine Hilfe und einen Ausdruck des Bedauerns des Arztes gesehen und sich gewiss damit zufrieden gegeben; da sie aber von beidem auch nicht eine Spur erkennen konnten, wandten sie sich direkt an die Aachener-und-Münchener-Versicherung, mit der der Arzt vertraglich verbunden war. Es begann der in solchen Fällen übliche Papierkrieg, zwei Gutachter wurden berufen, die unterschiedlich urteilten, weshalb sich die Versicherung zu nichts verpflichtet sah.
 Als sich dieses Ergebnis des Hilfsversuches abzeichnete und sich Dr. Tenckhoff sogar weigerte, eines der beiden Gutachten den Großeltern zukommen zu lassen, wandte sich Opa Jean in seiner Not an den Prälaten Johannes Fendel, der in seiner Stellung als Stadtpfarrer Aufsichtsratsvorsitzender des Hospitals war, und bat ihn um Vermittlung; da er doch seine bescheidene wirtschaftliche Situation kenne, wage er ihn zu bitten, auf Herrn Dr. Tenckhoff einzuwirken, einer gütlichen Lösung zuzustimmen und ihm eine Abschrift des zweiten Gutachtens herauszugeben.
 Damit hatte der Großvater in ein wahres Wespennest gestochen. Postwendend erhielt er von Fendel eine Abfuhr, was er sich einbilde, einen so tüchtigen und allseits geschätzten Arzt, durch dessen Ansehen das Limburger Hospital zu dem geworden sei, was es nunmehr sei, derart beleidigend anzugehen. Der Aufsichtsrat sei in keiner Weise befugt, auf den Chefarzt einzuwirken; im Übrigen weise man die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als durchaus unbegründet entschieden zurück.
 Nun fühlte sich der treue Jean verletzt, und das auch noch von seinem Pfarrer. Er schrieb ihm erneut, schilderte in einem 4 Seiten langen Brief genauestens den Verlauf von Omas Erkrankung und Behandlungen. Aus seinen bewegenden Worten sprechen familiäre Not und existenzielle Verlassenheit:
 
Wenn Sie sich ein Bild machen könnten, in welcher trostlosen Lage sich meine Frau zur Zeit noch befindet, wären Sie zu einer solchen Antwort nicht gekommen. Stellen Sie sich vor, daß meine Frau dauernd durchnäßt und wund ist, ohne Verband, den sie stündlich wechseln muß, nicht gehen kann, dauernd niedergeschlagen ist und schwermütig zu werden scheint. - Sollten Sie sich auch diesem Schreiben gegenüber verneinend verhalten, so dürfen Sie sich nicht wundern, wenn meine fünfköpfige katholische Familie an ihrem Pfarrer irre wird und die Orientierung verliert.
 Großvaters Brief blieb unbeantwortet, aber Dr. Tenckhoff ließ ihm nun endlich das zweite Gutachten zukommen, und da sich darin der Gutachter in der entscheidenden Frage der Verursachung der Schädigung unbestimmt äußerte, riet man allgemein den Großeltern, die Sache nicht auf sich beruhen zu lassen. Um mit einer Klage vor Gericht weiter zu kommen, fehlten den Großeltern die finanziellen Mittel. So stellten die Großeltern beim Landgericht in Limburg den Antrag auf Armenrecht, um ihre Klage erheben zu können. Irgendwie muss Dr. Tenckhoff davon erfahren haben,woraufhin er, der Beklagte, beim Landgericht Limburg den Antrag stellte, den Großeltern das Armenrecht zu verweigern und ihnen die Verfahrenskosten aufzugeben. Er begründete den Antrag mit für ihn günstigen Ausschnitten aus den beiden Gutachten, die einen Erfolg der Klage seiner Meinung nach aussichtslos machten, welcher Ansicht sich das Landgericht unter Vorsitz des später regional berühmten Juristen Dr. Lehr anschloss und auf Ablehnung des Armenrechtes für meine Großeltern erkannte.
 Es ist noch ein verzweifelter Schriftsatz meines Großvaters an das Landgericht erhalten, von dem ich freilich nicht weiß, ob er überhaupt eingereicht wurde. Jedenfalls gaben die Großeltern tief enttäuscht auf.
 Ich selbst kann mich noch erinnern, dass wir Anfang der 40-er Jahre nach Dernbach fuhren, wo sich meine Oma in der Klinik der Dernbacher Schwestern von dem bekannten Chirurgen Dr. Pöplau die linke Niere hatte entfernen lassen. Das Organ hatte sich inzwischen von den Bestrahlungen teilweise erholt und damit die Leiden meiner geliebten Großmutter über 12 oder 13 Jahre fortgesetzt. Doch damit war den Problemen kein Ende gesetzt, denn nun begann Omas überlastete rechte Niere zunehmend ihren Dienst aufzugeben, einen mehr und mehr überhöhten Blutdruck zu verursachen, und schließlich 1953 durch gänzliches Versagen ihrem Leben ein Ende zu setzen.
  II und III
 Die Krankheitsgeschichte der Großmutter bestimmte in fataler Weise auch den unglücklichen Verlauf der Erkrankung des Großvaters. Seinen Tod 1937 habe ich schon erwähnt, nicht aber, wie es dazu kam. Schon einige Jahre vorher klagte Jean über diffuse Magenbeschwerden, denen er aber keine ernsthafte Ursache zuschrieb. Anders der gute, jüdische Hausarzt der Großeltern Dr. Weinholt, dessen großen Hausgarten der Großvater betreute.
 Zu ihm hatte Jean ein besonderes Verhältnis, nicht nur weil er seine ärztlichen Fähigkeiten schätzte, sondern auch weil er menschliche und soziale Lebenseinstellung hoch achtete. Und weil er ein Liebhaber natürlicher Gartengestaltung war, sein flaches Wohnhaus mit hohen Bäumen umgab und einfach und bescheiden lebte. Jean arbeitete gern in seinem Garten, und wenn ihn Dr. Weinholt drängte, seine Magenbeschwerden nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, sondern sich endlich, den Magen röntgen zu lassen, erwiderte er regelmäßig, er halte mehr von einem halben Pfund selbst eingelegten rohen Sauerkrauts als von dem schönsten Becher Röntgenbrei des Dr.Tenckhoff. Und da Dr. Weinholt wusste, welche Gefühle dieser Name in meinem Großvater auslöste, ließ er es bei der Antwort bewenden: “Nun ja, es gibt ja wohl noch andere Krankenhäuser in Deutschland, die ein Röntgengerät haben, als das hier in Limburg.”
 Gegen Ende 1936 wurden dann Jeans Magenbeschwerden zunehmend schmerzhaft, und Jean merkte nach und nach, dass er sich wohl einer gründlichen Untersuchung seines Leidens nicht länger entziehen konnte. In diese Situation platzte eines Tages die gänzlich unverhoffte Nachricht hinein, sein ältester Sohn Willi habe in der vergangenen Nacht eine massive Darmblutung erlitten, man habe ihn ins St. Vincenz-Hospital gebracht, dort untersucht und ein großes Dickdarmgeschwür gefunden, dass am kommenden Morgen operiert werde. Opa Jean wollte nun abwarten, bis Willi aus dem Krankenhaus zurückkam, dann wollte er, dann musste auch er gehen.
 Der erste Eingriff ergab, dass sofort ein größeres Stück aus dem Enfdarm herausgeschnitten werden musste. Am Abend vor der zweiten Operation schrieb Vater folgenden Brief:
 
Meine Lieben,
auf ärztliches Anraten habe ich mich zur sofortigen zweiten Operation entschließen müssen, nach Aussprache mit Luise. Man macht mir ärztlicherseits die denkbar besten Aussichten; 3-4 Wochen Krankenhaus, nach weiteren 2-3 Wochen Berufsfähigkeit. Eine entzündete Darmstelle soll herausgeschnitten werden, um eine erneute Wucherung zu verhüten. Dann sei Schluss; Veranlagung zur Wiederkehr hätte ich nicht, im übrigen sei der Darm gesund. Die OP sei etwas umständlich, weil das fragliche Darmstück so liegt, dass man nicht so einfach dran kann. Lebensgefahr bestünde nicht. Ich habe mit den Ärzten die Frage nach allen Seiten oft und ausführlich besprochen. Ich bin mir vollkommen klar: Es ist eine bittere Entscheidung, aber ich muss sie im Interesse meiner lieben Familie und meiner späteren Gesundheit auf mich nehmen. Ich schreibe Euch die Wahrheit: Ich bin voller Zuversicht und Gottvertrauen.
Und dennoch denkt man weiter. Wenn mir während oder bald nach der Operation das Schlimmste zustoßen sollte, dass also der Herrgott mich abruft, dann macht Euch - Ihr lieben Eltern und du, mein lieber Schwager Max und Du mein lieber Schwager Ernst im ganzen Leben Mühe um meine gute Frau und unsere beiden Kinder. Helft die Sorgen erleichtern.
Nie wird Luise unseren Peter Paul anders behandeln als den Günter, der sich ja auch so prächtig entwickelt und in den letzten Tagen wieder so schön zugenommen hat. Seid auch Ihr zu beiden Kindern gleich gut. Dem Paten von Peter Paul schreibe ich heute, dass auch er im Ernstfall - an den ich wahrhaftig nicht glaube - mit Rat und Tat für Peter Paul sorgen hilft, und dass das Kind und alles natürlich zu Luise gehört.
Unsere Ehe war bisher schön und sie wird auch fernerhin von Liebe, Vertrauen und Fürsorge getragen sein. Wir vier waren eine Familie, das kann und wird auch in Zukunft nicht anders werden. Dafür habe ich nicht nur Luises Versprechen aus unserer ersten Zeit, sondern ihr liebes und zuverlässiges Wesen, an dem ich nie zweifelte noch zweifeln könnte.
Von diesem Brief sage ich meiner guten Frau nichts, weil sie so voller Glaube an Gesundheit ist (durch mich und nach Rücksprache mit den Ärzten), dass sie an ein böses Ende nicht denkt. Gott erhalte ihr diese Zuversicht. Ich habe sie ja an sich bestimmt auch, aber als Mann und Vater der Familie muss ich weiter denken.
Sollte mir etwas passieren, wäre es mir am liebsten, wenn Max für die Jungen die Vormundschaft übernähme oder Luise selbst, und dass Max sie besonders unterstützt.
Liebe Mutter, an Dich habe ich die Bitte, wenn Du kannst, in den nächsten Tagen, wenn Alwine zurückfährt, her zu kommen. Luise hält so viel auf Dich und Du wirst ihr eine große Stütze sein und Ablenkung, - und dies für mich eine besondere Ruhe.
Von dem Ausgang der Operation werdet Ihr sofort hören. Es geht nicht um Leben und Tod und deshalb: Keine zu große Sorge! Ich fühle mich kräftig und ruhig. Der Herrgott wird uns helfen, dass wir mit Vater hier gemeinsam Weihnachten verbringen in unserer schönen neuen Wohnung.
Luise weiß also nicht, dass ich Euch geschrieben habe; später soll sie, wenn es schief geht - was ich nach wie vor für ausgeschlossen halte - diesen Brief sehen. Er enthält doch manche Gedanken, die sie angehen. Auch sonst habe ich hier für das Wohl meiner Familie durch allerlei Vorsichtsmaßnahmen gesorgt. Aber immer wieder sei es gesagt: in väterlicher Sorge und nicht aus Angst oder gar begründetem Zweifel.
Ich bin Euch immer dankbar.
In treuer Anhänglichkeit
mit den besten Grüßen
Euer Willi
 
Sonst geht hier alles gut. Sprecht über diesen Brief mit niemandem außerhalb der Familie. W.
Morgen oder Übermorgen ist die Operation - ein tüchtiger Arzt!
 Bei diesem Brief lag ein Blatt, auf dem mein Vater aufgeschrieben hatte, wem er noch Geld schulde, welche Rechnung noch unbezahlt war und vorsichtshalber auch, wem er nichts schulde.
 Vaters Operation verlief glimpflich, und er erholte sich auch rasch wieder; er und die Familie begannen etwas Luft zu schnappen. Dazu trug bei, dass Dr. Teinkhoff, wie die Familie von seinem Assistenten Dr. Bernhard Bremer erfuhr, ein wahres Meisterstück an Operationskunst fertigbrachte, um meinem noch nicht einmal 30-jährigen Vater einen künstlichen Darmausgang zu ersparen. “Wenn er Ihrer Familie noch etwas schuldig war, an Ihrem Vater hat er es gutgemacht.”
 Doch nicht lange, denn noch vor Weihnachten 1936 musste Opa Jean ins Hospital. Wie mir Dr. Weinholt nach dem Zweiten Weltkrieg, nachdem er aus seinem Exil in Japan nach Limburg zurückgekommen war, berichtete, “zerfiel sein Magen bei der Operation wie ein gargekochter Blumenkohl; ein Bauchspeicheldrüsenkrebs hatte nach oben den Magen und nach unten den Dünndarm zerstört. Ihr Großvater muss lange Monate barbarische Schmerzen ausgehalten haben.” Nun, die Familie wusste davon nichts, jedoch war Großvaters Tod der Erholung meines Vaters keineswegs förderlich.
 So legte das unerbittliche Schicksal dem Jahr 1937 für unsere Familie genau die Rolle auf, die im klassischen Drama dem IV. Akt zukommt: Während die Hoffnung durch einige glückliche Ereignisse ein befürchtetes schreckliches Ende vergessen lässt, schreitet das eigentliche Verhängnis unaufhaltsam voran.
 Immerhin hatten wir inzwischen eine neue Wohnung bezogen, in Limburgs Galmerseitenstraße am Südrand der Stadt, eine große und helle Wohnung mit den mehreren Fenstern nach Süden, im Parterre eines neuen Wohnblocks, und, was das Schönste daran war, vor unserem Haus dehnten sich freien Felder und führte ein gerader Weg direkt in den Himmel. Hier öffnete sich für uns Kinder ein Paradies, und wenn mir bis heute Wanderungen und Aufenthalte in der freien Natur einen Vorgeschmack des Himmels bedeuten, so stammt das aus der Freiheit unserer Kindertage, vom Stromern und Spielen in einer für uns Kinder unendlichen Weite zwischen Limburg und Linter. Es war unserer Mutter zu verdanken, dass wir die Wohnung aus dem zweiten Stock in der Parkstraße 10 aufgaben und hierhin zogen; sie war es, die unbedingt zu ebener Erde wohnen wollte, damit nichts unseren freien Auslauf behindern sollte, und wir keine Rücksicht auf eine Lärmbelästigung unter uns wohnender Mitbewohner nehmen mussten.
 Aus den wenigen Jahren in der neuen Wohnung stammt das letzte Bild, das Mutter von uns und unserem Vater machte. Mutter hatte eine Agfa-Box und machte von dieser simplen Kamera reichlich Gebrauch und mit ihr viele schöne Schwarzweiß-Bilder, deren Lebendigkeit alle die vielen Farbbilder, die sie in späteren Jahren aufnahm, weit übertrafen. So auch das letzte vom Vater und meinem Bruder und mir: Im schneearmen Winter 1937/38 stehen wir Brüder vor unserem Haus an das Geländer des Umfassungsmäuerchens um den Vorgarten gelehnt, während Vater vor uns und der grauen Mauer steht. Wir zwei in voller Fastnachtsverkleidung, mein Bruder als Clown mit bommelverziertem Spitzhut, ich als Schornsteinfeger in schwarzem Anzug mit Zylinder und schwarzer Leiter, und vor uns Vater mit Mantel und Hut, ein stattlicher Mann mit erschreckend schmalem, grauem Gesicht.
 Wenn ich mir heute die Fotoalben aus jenen Jahren anschaue, erkenne ich wohl alle Personen und sachlichen Einzelheiten, in mein Gedächtnis haben sich aber andere Begebenheiten eingegraben, als sie die Bilder zeigen. Das mag daran liegen, dass Erwachsene anders und Anderes erleben als Kinder; aber Vieles wischte wohl auch eine gnädige Hand von der Gedächtnistafel ab, um meinem Bruder und mir ein gesundes Leben zu ermöglichen, was unter einem ständig bewahrenden Gedenken all der schlimmen Eindrücke nicht möglich gewesen wäre.
 Als sich Vaters Leberbeschwerden verschlimmerten, vermittelte ihm Dr. Hilf eine Röntgenbehandlung in der Frankfurter Uni-Klinik; dort könne man, so sagte er meinen Eltern wenigstens, mit Bestrahlungen die Leberschwellungen eindämmen und ihn von seinen Beschwerden befreien. Das weckte neue Hoffnungen, und eines Morgens im Februar 1938 kam Eduard Jäger, Vaters Freund und Mitstreiter in der Christlichen Gewerkschaft, mit seinem Opel-P4 und holte Vater und mich ab. Was war ich da stolz, mit einem Auto in den Kindergarten gefahren zu werden! Erst die Galmerstraße hinab, dann durch die Blumenröder Straße zum Bahnhof, dort über die Gleise und durch die Graupfortstraße bis zur Post in der Frankfurter Straße. Dort hielten wir an der Einfahrt zu Fischers Eisenlager eine Weile, in der sich Vater von seiner Mutter verabschieden ging. Die kam dann noch für einen Augenblick aus ihrer Wohnung herab zum Auto, und ich sah die Tränen in den Augen meiner Oma und dachte wohl nicht anders, als falle ihr unser Wegfahren so schwer. “Musst doch nicht weinen”, versuchte ich sie zu trösten, “der Papa kommt doch schon bald wieder zurück, und ich fahre doch nur zu den Schwestern in den Kindergarten”.
 Als wir - wenig weiter an der Frankfurter Straße  dort ankamen und ich aussteigen wollte, umarmte mich Vater und gab mir einen Kuss, was auch mir die Tränen in die Augen trieb. So stand ich dann in der Tür zum Kindergarten, hielt mich an meinem Täschchen fest und schaute dem Auto nach, das die Frankfurter Straße hinauf davonfuhr.
 Diese Szene hatte ich aber bald schon wieder verdrängt und lange Jahre vergessen, bis sie mir Jahrzehnte später am Rande einer pädagogischen Konferenz die inzwischen uralte Nonne, die mich an der Kindergartentür in Empfang genommen hatte, ins Gedächtnis zurückrief. Und das mit dem Erfolg, dass ich mich schluchzend von der Schwester und meinen Kollegen entfernen musste und mich lange nicht beruhigen konnte.
 ‑
 Mutter fuhr, sooft es ihr möglich war, nach Frankfurt in die Klinik, um Vater zu besuchen. Die Behandlung erfolgte zunächst mit Bestrahlungen und zur Abwendung der zunehmenden Schmerzen erhielt Vater immer öfter Morphium-Injektionen. Als schon nach der zweiten Woche der Behandlung, als Tante Gretel ihren Bruder besuchte, nahm Professor Hohlfelder , der Chefarzt der Abteilung, sie beiseite und erklärte ihr, dass Vaters Krankheit ein inoperables Leberkarzinom sei, dass sich schon so weit fortentwickelt habe, dass keine Hoffnung auf Heilung bestehe und man jederzeit mit Vaters Tod rechnen müsse. Er sei ja verpflichtet, wenigstens einer Verwandten reinen Wein einzuschenken, sie möchte aber bitte, was sie jetzt wisse, vertraulich für sich behalten, und sich vor allem von unserem Vater und unserer und ihrer Mutter nichts anmerken lassen.
 Dass Tante Gretel, obgleich sie unter ihrem Wissen sehr litt, das Verlangen des Arztes gewissenhaft befolgte, trug dann, als sie Mutter nach Jahren davon erzählte, dazu bei, dass sich aus ihrer gegenseitigen misstrauischen Abneigung, wie sie unter Verschwägerten nicht selten ist, eine abgrundtiefes gegenseitiges Missverhältnis entwickelte, unter dem ich jahrelang zu leiden hatte. “Mit welchem Recht,” fragte Mutter oft vorwurfsvoll, “hat man mir, und hat vor allem Gretel mir das Allerwichtigste meines Lebens zu wissen vorenthalten?”
 Aus den letzten Tagen meines Vaters bewahre ich noch eine Postkarte mit Grüßen an alle Lieben, und im Gedächtnis, was Mutter mir von Vaters letzten Stunden erzählt hatte. Davon mag ich einiges diesen Zeilen nicht anvertrauen, aber eines doch, dass Vater nach der Uhrzeit fragte, und Mutter, die keine Uhr trug, ihm sagte: “Ich glaube, es ist so um die acht Uhr” - darauf die vielsagende Antwort erhielt: “Ach Luise, glauben heißt nicht-wissen ...”
 Vater starb nach sechswöchigem Klinikaufenthalt am 23. März 1938, dreißigjährig. Mutter war bis zuletzt bei ihm. Sie erzählte uns immer wieder, dass sie danach in der Nacht von der Klinik aus am Main entlang gegangen sei und als sie dann über den Eisernen Steg in die Stadt gegangen sei, habe die Brücke bei jedem ihrer Schritte unter ihr geschwankt und gebebt.

  Meine Suche nach dem wahren Christkind

 I

 Alle Kinder suchen nach dem wahren Christkind. Während des Wartens in den langen Wochen vor Weihnachten beschäftigt sie nichts so sehr: Ob sich ihnen nicht irgendwo und irgendwie in einem kurzen Augenblick das Christkind selbst einmal zeigt? Ob sie es nicht wenigstens einmal belauschen oder beobachten können? Die Erwachsenen machen ihnen solche verlockenden Andeutungen, dass ihnen die Seele vor Erwartung zu platzen droht, und wenn sie ihren Eltern davon sprechen, sagen die ganz kühl, sie müssten halt lernen, ihre Neugierde zu bezähmen. Nein, meine Neugierde ließ sich nie zähmen, und bis heute leide ich unter ihr; so alt ich inzwischen bin, umso schlimmer quält mich ein unstillbarer Wunsch, das wahre Christkind doch einmal sehen zu dürfen.
 Eigentlich müssten mich meine vielen vergeblichen Bemühungen und vor allem die erlebten Enttäuschungen und Blamagen, ja Demütigungen längst eines Besseren belehrt haben – hat es aber nicht! Und als ich einmal meinem besten Freund – natürlich unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit - davon erzähl­te, schüttelte der nur den Kopf und meinte: „Junge, Junge, willst Du denn nie erwachsen werden?“ Wenn das der Preis war, erwachsen werden zu können, die banale Wahrheit, es gebe kein Christkind, das sei doch alles Kindertheater, nein, was solle denn daran schön sein? Und wenn die, die sich gegen soviel Banalität wehrten, nichts hatten als die schmuddelige Ausrede, wenn schon alles nur Schwindel sei, sei es doch Kinderseligkeit, in dieser wunderbar illusionären Welt so lange zu verharren, wie es eben ginge. Danach bliebe ja immerhin noch der Griff nach einer Flasche Alten Genevers. Na, denn mal prost !

 II

 Matthias Claudius geht mir durch den Kopf, nicht nur für Goethe einer der Größten unter die Dichtern, denn er schrieb:
 

Siehst du den Mond dort stehen,

er ist nur halb zu sehen

und ist doch rund und schön.

So sind wohl manche Sachen,

die wir getrost belachen,

weil unsere Augen sie nicht sehn.

 Aber es schmerzt eben doch, immerzu und immerfort nicht zu sehen, aber oft genug auch nicht lachen zu können. Als ich 5 Jahre alt war, starb unser Vater, und ich erinnere mich genau, je näher Weihnachten kam, desto intensivere Verhandlungen führte ich mit meinem Schutzengel, mir doch unseren Papa wiederzubringen. Für den Engel hielt ich jeden Abend in meinem Kinderbett einen Platz neben mir unter Zudecke frei. Dahin legte er sich, und ich konnte alles Wichtige mit ihm flüsternd besprechen; und der verstand sehr wohl, dass mein kleines Brüderchen, das eben erst laufen lernte, und ich den Papa dringend wieder brauchten. Es konnte doch nicht sein, dass der Papa nicht zurückkam. Das Christkind wusste ganz genau Bescheid, es hatte doch auch gesehen, dass der Herr Jäger eines Morgens mit seinem Opel P4 zu uns vors Haus gefahren kam und Mama und Papa und mich abholte.
 Es war das einzige Mal, dass ich in einem Auto in den Kindergarten gefahren wurde, ach, war das schön! Aber dann stand ich in der Kindergartentür und die Schwester hinter mir legte ihre Hand auf meine Schulter, und ich schaute dem Auto nach, das mit Mama und Papa davonfuhr. „Nach Frankfurt muss der Papa“, hatte die Mama gesagt, „der Papa ist krank und muss sich die Leber behandeln lassen. Du hast doch gehört, wie das der Dr. Hilf gesagt hat“.
 Ja, ja, das hatte ich wohl gehört, aber doch nicht verstanden, dass jetzt der Papa für Wochen fortbleiben sollte. Auch, dass die Mama immer wieder für ein paar Tage nach Frankfurt fahren musste, um den Papa zu besuchen, und immer mit traurigerem Gesicht zurück aus dem Krankenhaus kam, und ihr das „Auch schöne Grüße vom Papa“ mit immer mehr und immer heftigeren Tränen über die Lippen kam.
 Alles das weißt du doch. Und auch dass wir zum Glück dann beide krank wurden, die Masern bekamen, mein Brüderchen und ich, und einige Zeit bei abgedunkeltem Zimmer in unseren Bettchen bleiben mussten, wie uns Dr. Hilf mit ernstem Gesicht einschärfte. Und du weißt auch, dass wir uns über den vielen Besuch freuten, als wir langsam wieder gesund wurden, alle Onkels und Tanten kamen uns besuchen, extra in feierlich schwarzen Kleidern und Anzügen, und die Oma aus Werden und die beiden Omas hier aus Limburg, alle waren sie bei uns und es gab sogar Kuchen zur Feier des Tages unserer Gesundung.
 „Du erinnerst dich doch auch“, flüsterte ich dem Schutzengel neben mir unter dem Oberbett zu, „wie die Mama mir beim Zubettgehen leise sagte: „Das wird den Papa beim Lieben Gott im Himmel sicher auch freuen, dass ihr heute so einen schönen Tag hattet und so viel Besuch und jetzt wieder ganz gesund werdet.“ Und dass die Mama nun nicht mehr nach Frankfurt fahren musste, freute sie wohl auch, dennoch hat sie heute sehr, sehr geweint. Warum? Sie hat kaum ein Wort herausgekriegt, so sehr hat sie geschluchzt: „Der Papa ist ein Feigling. Er lässt uns hier sitzen, so ganz alleine, nur ihr und ich, und er lässt es sich im Himmel beim Lieben Gott gutgehen“. Aber es hat alles nichts geholfen.
 Später, als es bald Weihnachten wurde, fasste ich einen Entschluss, das alles nicht einfach hinzunehmen. „Also“, sagte ich meinem Schutzengel am Abend vor Weihnachten, „wenn das so ist, wie die Mama sagt, glaube ich, dass du oder besser noch das Christkind mal ein ernstes Wort mit dem Drückeberger reden musst. Macht es den Leuten im Himmel doch nicht so verdammt bequem, dass sie ihre Kinder und Frauen auf der Erde vergessen! Was soll das denn für ein Weihnachten morgen für uns hier werden, wenn der Papa nicht wiederkommt, nur weil es ihm beim Lieben Gott so gut gefällt. Wenn das Christkind uns eine Freude machen will, soll es uns bitte, bitte, den Papa wieder herbringen. Sag ihm das bitte.“ Ich weiß nicht mehr, was mir mein Schutzengel darauf geantwortet hat; wohl weil ich endlich eingeschlafen bin.
 Der nächste Tag verging, wie alle Tage vergehen, an deren Ende der Heilige Abend gefeiert werden soll, für die Erwachsenen geschäftig, für ihre Kinder viel zu langsam. Aber mir war das ganz recht, denn bis es dunkel wurde und der Weihnachtsbaum angezündet werden konnte, hatte mein Schutzengel ja eine schwierige Aufgabe, denn wenn es meinem Papa im Himmel so gut gefiel, musste er sich ja entschließen zu uns zu kommen und sich von allen seinen Freunden und Bekannten da oben verabschieden. Und der Weg von dort nach hier war ja gewiss sehr weit. Als es dann dunkelte und die Mama mit uns das Weihnachtszimmer betrat, schaute ich mich genau um, suchte mit meinen Blicken alle vier Ecken sorgfältig ab, während die Mutter auf ihrer Flöte ein Weihnachtslied spielte. Nein, vom Papa keine Spur!
 Ziemlich enttäuscht machte ich mich über die Geschenke her, die unter dem Christbaum für mich lagen. Ich packte eines nach dem anderen aus, insgeheim mich mit dem Gedanken gegen die Erwartung wappnend, eines der Geschenke könnte sich beim Entpacken unter meinen Händen vergrößern und vergrößern und endlich dann der Papa aus ihm heraustreten. Natürlich endete dieser Heilige Abend in einer tiefen Enttäuschung – aber doch nicht ganz. Denn, als uns die Mama ins Bett brachte, klopfte es am Fensterladen. Was ich dachte, braucht nicht beschrieben zu werden, und doch rührte es uns alle drei zu Tränen, was da geschah. Und als wir uns ausgeheult hatten, konnten wir den Abend getrost beenden. Denn als die Mutter den Fensterladen öffnete, sah sie draußen vor der Haustüre ein sehr großes Paket stehen. Ich lief mit meiner Mama vor die Türe, und wir hatten alle Mühe, das Paket ins Weihnachtszimmer zu schaffen. Dort packten wir es aus, und fanden ein Lebkuchen-Hexenhäuschen, größer als ich. Das stand lange, lange im Weihnachtszimmer, ehe wir uns getrauten, von den Lebkuchen und Plätzchen etwas abzubrechen und zu kosten, ja, wir scheuten uns ehrlich vor der himmlischen Gabe. Nach Dreikönig erst fand sich dann im Hexenhäuschen ein Brief des guten Dr. Hilf, der uns Kindern schrieb, wenn schon unser Papa an diesem Abend nicht zu uns kommen könne, so solle dies dennoch ein Gruß von ihm sein. Unser Papa habe uns nicht vergessen.
 „Hast du das Hexenhäuschen gesehen? Der Papa hat es uns mit dem Christkind geschickt...“ Ja, mein Schutzengel hatte es gesehen und fand es auch wunderschön. Und ich vergaß auch nicht, mich zu bedanken, denn dass der Schutzengel dazu mitgeholfen hatte, das war doch klar.

 III

 Mehr als ein Jahr später hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Seit Ostern ging ich nun schon zur Schule und die Welt der Erwachsenen öffnete sich mehr und mehr vor mir. Das war auch für die Mutter hilfreich, konnte ich ihr doch fortan mehr und mehr zur Hand gehen und ihr die eine oder andere Besorgung abnehmen. So zum Beispiel zum Bäcker und dem kleinen Lebensmittelladen im Schlenkert gehen, bei ersterem ein Brot holen und in letzterem ein Päckchen Linsen. Stolz steckte ich die eine silberne Mark in die Hosentasche und warf mit heldenhaftem Schwung das Einkaufnetz über Schulter und Rücken und marschierte los. Die lange Galmerstraße verkürzte ich mir dadurch, dass ich die Bordsteine rauf- und runtersprang und dazu das Liedchen summte, das uns Lehrer Grimm, der so bewundernswert gut Geige spielte, beigebracht hatte. Schade, dass wir nicht immer von ihm unterrichtet wurden sondern nur in Musik und Malen, aber allein das machte schon den strengen Lehrer Arthen wett, bei dem es so wenig zu lachen gab. Aber zum Prügeln war der dafür umso schneller bereit; erst gestern hatte er mir den Hosenboden mit seinem Haselstecken versohlt, nur weil ich die Gertrud, die mir so gut gefiel, ein bisschen am Rock gezoppelt hatte. Das hätte der Grimm bestimmt nicht getan, ich wollte doch keinen Streit und ihr gar nichts Böses, sondern sie nur ein wenig necken … Inzwischen war ich am Sportplatz der Pallottiner angekommen, aber auf dem war nichts los. Also lief ich weiter bis zur Gartenstraße, und da sah ich, dass der Schuster Hellbach denselben Weg hatte wie ich. „Guten Tag, Herr Hellbach“, sagte ich und wollte eigentlich an ihm vorüber laufen, als er mich ansprach:“Na, kleiner Mann, wo geht’s denn hin?“ „Zum Bäcker und in den Laden um Brot und Linsen für meine Mutter.“ „Kannst du das denn schon?“ Ob der Mann mich beleidigen wollte? “Wieso? Bin ich denn nicht groß und stark genug, der Mutter ein paar Besorgungen zu machen?“ „Na, ich weiß nicht, groß und stark? Bekommst du denn auch gut und genug zu essen daheim ?“ „Wieso? Es bekommen doch alle Kinder daheim von ihrer Mama genug zu essen.“ „Das ist es ja eben. Du hast nämlich gar keine Mama.“ „Quatsch, alle Kinder haben eine Mama“. „Wenn sie nicht gestorben ist, du kluges Kind. Und deine ist schon vor Jahren gestorben.“ „Das glaubst du doch selbst nicht, denn eben, als ich daheim weg bin, war sie noch ganz lebendig.“ „Das ist nicht deine richtige Mama. Ich war selbst mit der Beerdigung deiner richtigen Mutter, damit du es weißt, du dummer Fratz!“
 Was sollte ich machen? Ich streckte dem blöden Kerl die Zunge raus, schrie „Ätsch, doofer Hellbach!“ - Ich habe aber doch eine Mama und sogar eine ganz liebe!“ und rannte, was ich konnte die Gartenstraße hinab und durch den Schlenkert zum Bäcker, erstand ein Brot, bekam zwei saure Himbeerbonbons dazu, rannte zum Lädchen um das Päckchen Linsen und ging, so schnell ich konnte, nach Hause. Meine Mutter wusste nicht, wie ihr geschah, dass ich so flink zurück war und dazu noch auf einen Küchenstuhl kletterte und ihr um den Hals fiel. „Mama“,sprudelte es aus mir heraus,“wie gut, dass du da bist. Eben hat mir nämlich der blöde Schuster Hellbach erzählt, ich hätte keine Mama, und du wärest tot und er mit deiner Beerdigung gegangen.“
 Das traf die Mutter wie ein Blitz, sie erstarrte und rührte sich eine ganze Weile nicht und begann dann fürchterlich zu weinen und wollte gar nicht aufhören, so viel ich auch auf sie einsprach. Das konnte ich nun wirklich nicht verstehen, und ich dachte nicht anders, als hätte ich etwas sehr Schreckliches getan oder gesagt, und die Mama würde jetzt wegen meiner Schuld nie mehr lachen und mit mir spielen. Schließlich verkroch ich mich in meine Spielecke und begann selbst zu weinen, ich weiß nicht wie lange.
 Es vergingen einige Tage und die verstärkten den Eindruck, die Mutter würde nun nie mehr mit mir reden, und wenn doch, dann höchstens kurz und knapp: „Putz dir die Zähne!“ oder „Wasch dir gefälligst die Hände!“ oder „Zieh dich bitte an!“ oder „Lass das sofort sein!“ Selbst mein Schutzengel, als ich ihm an diesem und den folgenden Abenden von dem Erlebnis und seinen Folgen erzählte, war ratlos. Es musste ein Geheimnis geben, an das der Schuster gerührt hatte, und ich musste etwas grundfalsch gemacht haben, dass die Mama jetzt so verändert war.

 IV

 Inzwischen hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, und Mutter erinnerte sich des Ersten und ihrer Kindheitserlebnisse in Werden und des Steckrübenwinters und der ersten Besetzung des Ruhrgebietes durch Franzosen. Besonders, dass sie damals erstmals Schwarze gesehen hatte, wunderschöne und gerade Menschen, wie sie uns erzählte. Dass das keine Erfindung war, stellte sich bald heraus, denn irgendjemand schenkte mir eine Schuhschachtel voller Soldaten, gebrannte Lehmfiguren, die in täuschend natürlicher Bemalung die schreckliche Wirklichkeit des Ersten Weltkrieges in meine Spielecke einführten, vom ersten Hurraschreier in deutscher bis zum letzten Gefallenen in englischer Uniform. In französischer Uniform war ein besonders großer schwarzer Soldat darunter, der die Hände hob, um sich gefangennehmen zu lassen. So stand denn dem häuslichen Kriegstheater nichts im Wege, und wir konnten bei schlechtem Wetter a miniature gewaltige Schlachten aufführen. Dafür und für Kriegsspiele bei schönem Wetter im Freien hatten wir Papphelme, mit Hakenkreuzen, das alte Elend aktualisierend. So gewannen wir Kinder einerseits ein positives Verhältnis zu Ereignissen, die mit anschwellender Bedrohlichkeit in unser Leben einbrachen, was wir umso spannender empfanden, als andererseits die mit der Kriegswirklichkeit verbundenen Scheußlichkeiten uns zutiefst verängstigten. Diese Ambivalenz zwischen lustvoll erlebter Spannung und bedrohlich ängstigenden Vorkommnissen sollte vom Herbst 1939 bis ins Frühjahr 1945, also meine Kindheit vom 6. bis ins 12. Lebensjahr in immerfort sich steigender Schärfe bestimmen, und ich denke, dass sich meine grundsätzlich pazifistische Einstellung im Erwachsenenalter aus den damals allzu reichlich zu verdauenden Erfahrungen ergab.
 Das begann mit Kinderspielen, in denen wir das, was wir aus der Erwachsenenwelt aufschnappten, nachstellten und verarbeiteten; diesen imaginären, immer zu glücklichen Ausgängen lenkbaren Veranstaltungen traten solche der realen Mächte jener Tage entgegen, die sich keineswegs nach Wunsch dirigieren ließen, ja, die uns führten, wohin wir nicht wollten. Zum Beispiel die Vorbereitungen auf den Luftkrieg. Herrlich, dass aus dem flachen Gelände um den Blumenröder Hof nun endlich ein Militärflugplatz wurde! Was gab es dort nicht alles zu sehen, wo hinein konnten wir unsere kleinen Neugiernasen nicht stecken? Jagdflugzeuge, leichte Kampfmaschinen, Vierlingsgeschütze für die Luftabwehr, alles das war höchst interessant. Starten und Landen der Maschinen, Funkverkehr hierhin und dorthin, dazu die schneidigen Soldaten der Luftwaffe in ihren tollen Uniformen! Welch eine bunte Welt! Wenn wir mit unseren Rollern um unseren Häuserblock fuhren, die Helme auf, waren wir da nicht Flieger, die gleich abheben und durch den Luftraum sausen würden ...Bomben auf En-ge-land ?!
 Dagegen passte es uns weniger, dass wir Luftschutzübungen machen, die zwei im Keller eingerichteten Luftschutzräume bei Probealarm aufsuchen mussten, um uns dort still und unbeweglich auf ein Stühlchen, einen Hocker oder vielleicht auch mal auf ein Schemelchen setzen und den langweiligen Vortrag des Herrn Stein anhören mussten, wie und wann die Fenster zu verdunkeln seien und vor allem warum! Und was man in den Keller mitnehmen durfte, und was nicht, und was Fliegeralarm bedeutete und was Voralarm und was Entwarnung und was Vorentwarnung, und wie die Sirenen das alles verkündeten. Ja, die Sirene, ausgerechnet unserem Haus gegenüber an der Ecke des Häuserblocks wurde die aufgestellt und wenn sie aufheulte, lieber Himmel, das stach geradezu in die Ohren, und zwar deshalb besonders, weil sich an unserer Häuserecke der Schall verfing. Und da ich aus meiner Kinderbibel wusste, dass Josua die Mauern von Jericho mit Posaunenschall zum Einsturz gebracht hatte, verdammt, da konnte unser Haus gewiss nicht dem Schall dieser Sirene standhalten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann unser Wohnhaus mit allen sieben Wohnungen einstürzen würde, und immer, wenn die Sirene in all den langen Kriegsjahren losging, fuhr ich aus meinem Bett und in meine Kleider und Schuhe, und rannte als erster in den Keller, später in die verschiedenen Bunker, die damit zu den Schauplätzen unserer Kriegsexistenz wurden. Gleich, ob es Sommer war oder Winter, gleich ob es regnete oder schneite, gleich ob die schönste Sonne schien oder der Mond über uns Kellerasseln und Bunkerwanzen lachte, die Sirene jagte uns in den Keller, in den Bunker.
 Dort gab es nicht einmal Toiletten, so dass, als in den späteren Kriegsjahren unsere Bunkeraufenthalte sich zu Ganztagsbeschäftigungen ausdehnten, wir immer größere Perfektion und Erfahrung in der Anlage und Pflege der Kaktusalleen in Bunkernähe entwickeln mussten. Man gewöhnt sich ja an vieles, nie gewöhnt habe ich mich an die beengende und beängstigende Not, die schon das übungsweise Aufsetzen einer Gasmaske bedeutete.
 Wo andere Kinder sich aus diesen Übungen einen Jux machten, mit der Maske wie mit einer Gruselfratze herumtobten und andere zu erschrecken versuchten, litt ich klaustrophobische Qualen, Befürchtungen, aus dieser Einengung nicht wieder herauszukommen, und dies ganz besonders, wenn die Atmung durch das Anschrauben des großen Luftfilters noch zusätzlich erschwert wurde. Überhaupt war für meine lebendige Phantasietätigkeit all das, was man über Bombenangriffe hörte, ja bei den Luftschutzübungen lernen sollte, reines Gift. Unter Häusern verschüttet werden, von einem zerstörten Haus sich notfalls durch einen selbst zu grabenden Tunnel in den Nachbarkeller retten müssen, ach, welch bedrückende Aussichten! Die Gewalt der Explosionen, die die Trommelfelle in den Ohren, ja die Lungen, die man doch notwendig zum Atmen brauchte, zerreißen würden – all das erregte in mir schreckliche Furcht.
 Nein, an diesem Weihnachten kam ich dem wahren Christkind gewiss nicht näher, oder vielleicht doch?

 V

 Gegen Ende des Jahres 1939 entschloss sich Mutter, mit uns beiden in die Berge zu ziehen, wo sie uns vor Luftangriffen sicherer glaubte, um dort das für bald erwartete Kriegsende abzuwarten. Sie erinnerte sich, dass zwei Jugendleiterinnen, bei denen sie ein Jahr im Kinderheim auf Borkum gearbeitet hatte, inzwischen in Oberstdorf in den Alpen ein privates Kinderheim betrieben. Zu ihnen nahm sie Kontakt auf, bot ihnen ihre Mitarbeit als Kindergärtnerin an und wollte als Lohn nur freie Kost und Logis für uns und sich. Den beiden Heimleiterinnen war das Angebot willkommen, und so fuhren wir im Spätherbst nach Oberstdorf ins Allgäu.
 Ich erinnere die Fahrt noch sehr gut; da ich Fahrten in Autos und Zügen nur schlecht vertrug, musste ich immer schon nach wenigen Kilometern Fahrt ausgiebigst erbrechen, und bis Oberstdorf waren es deren einige Hundert. So stand ich auf der Fahrt länger vor den stinkenden Kloschüsseln etlicher Eisenbahnwagen, als ich auf meinem Platz sitzen und aus dem Fenster schauen konnte. Zu allem Elend quälte mich damals auch noch heftiger Keuchhusten, aber, o Wunder, als wir in Oberstdorf aus dem Zug stiegen, war die Übelkeit schlagartig verschwunden, und ich hustete auf dem Bahnsteig noch einmal – und dann nicht wieder. Ich war selig , aber diese allen Erwachsenen unverständliche Duplex-Heilung trug mir den Verdacht ein, ich sei ein Hypochonder, der sich seine Krankheiten durch Einbildung je nach Wunsch herbeizaubern könne und dieses Mittel ausschweifend benutze, die lieben Mitmenschen zu terrorisieren. Und da die schreckliche Reiseübelkeit das nächste Mal bei jeder Gelegenheit wieder auftrat, galt ich fortan als eingebildeter Kranker und wurde ständig aufgefordert, mich so oder anders zu verhalten, vor allem aber mich gefälligst zusammen zu nehmen.
 In einer Situation, in der das keiner erwartete, führte mein Leiden zu einer wahren Katastrophe. Das kam so: Für den Heiligen Abend hatten sich die beiden Heimleiterinnen als besondere Überraschung für sich und Mutter und uns eine Pferdeschlittenfahrt durch die verschneite Bergwelt ausgedacht. Und weil die beiden Damen als glühende Verehrerinnen des damals noch glorreichen Führers von einer christlichen Weihnacht nichts hielten, planten sie diese Schlittenfahrt durch die winterliche Natur als eine treffliche Begehung der germanischen Wintersonnenwende. Uns Kindern waren diese Zusammenhänge nicht bewusst, obgleich uns auffiel, dass Mutter darauf bestand, wenigstens mit mir in die frühmorgendliche Weihnachtsmette zu gehen. Das hatte eine Verlegung der Schlittenfahrt auf den späten Nachmittag zur Folge, weil nach der Rückkehr noch ein paar Stunden Schlaf bis zur Mette bleiben mussten.
 Als der Pferdeschlitten am Nachmittag zum Kinderheim Berghalde kam, waren wir natürlich kaum von den prächtigen Tieren, die mit bunten Decken und silbernen Glöckchen geschmückt waren, wegzubekommen, aber vor dem Feiertag waren noch ein heißes Bad und Kleiderwechsel und andere uns Kindern verhasste Pflichtübungen zu absolvieren.
 Aber dann ging es los:: Wir wurden in schwere Säcke aus Pferdedecken gesteckt und auf den prächtig geschmückten Schlitten gesetzt, die Erwachsenen stiegen auf den Schlitten, der Fuhrmann bestieg die vordere Schlittenbank, und die Pferde zogen an. Es waren zunächst ebene Wege, die wir fuhren. Der Schnee knirschte unter den Kufen und dieses Knirschen mischte sich mit dem schleifenden Ton, den der Schlitten auf dem Schnee erzeugte, zu einer seltsam an- und abschwellenden Melodie. Als dann die Wege unebener wurden, begann der Schlitten nicht nur hin und her zu schwanken, sondern, wohl weil der Schnee doch nicht überall dick genug unter den Kufen lag, ruckelte und zuckelte das Gefährt auch in der Vorwärtsbewegung immer unregelmäßiger.
 Zuerst beachtete ich das leise Aufstoßen und Grummeln in meinem Magen nicht besonders. Im Gegenteil, ich fühlte mich wohl und lauschte den Gesängen, die die beiden Heimleiterinnen anstimmten, und weil darin eine hohe Nacht mit klaren Sterne vorkam, lehnte ich mich zurück und schaute zum tiefblauen Himmel hinauf und freute mich über das Glitzern der goldenen Lichter. Hätte ich das nur nicht getan, denn die ungewohnte Lage erregte offenbar Schwindelgefühle in mir, der ich weder Schaukel noch Karussell vertrage, und eine so plötzliche Übelkeit, dass nicht nur meine Kleidung und mein Pferdedeckensack besudelt wurden, sondern auch die Pelzjacke der Heimleiterin, die bis dahin so schön gesungen hatte. Was soll ich sagen, der germanische Gesang verstummte und man schälte mich aus den bekleckerten und äußerst übel riechenden Textilien, versuchte letztlich jedoch die von sanftem Glöckchenspiel begleitete Schlittenpartie fortzusetzen.
 Dieser Versuch musste freilich bald schon wieder unterbrochen werden, da ich wohl zum Kaffee reichlich dem Honigkuchen zugesprochen und beim ersten und zweiten Rückwärtsessen noch nicht bereit war, alles von mir zu geben, sondern für einen weiteren, dritten Akt des Dramas noch etwas zurückzuhalten trachtete. Natürlich handelte ich mir durch solch ein unangemessenes Verhalten das allerhöchste Missfallen ein, so dass sich zum inneren Übelsein auch noch heftige äußere Tadeleien gesellten. An denen wurde nicht gespart, weder auf der alsbald angeordneten Rückfahrt noch nach der Ankunft in der 'Berghalde'; dort schickte man den Verderber der rein germanischen Winternachtfeier sogleich ins Bett, was mir dann wenigstens vorerst weitere Anmerkungen zu dem unappetitlichen Vorfall ersparte. Jedoch nur vorerst, denn schon beim Frühstück des Ersten Weihnachtstages musste ich mir anhören, dass ich die eigentlichen Höhepunkte der Schlittenpartie zunichte gemacht hätte, das geplante Mahl mit Allgäuer Schinkensemmeln bei Kerzenbeleuchtung in der verschneiten Berghütte und die schöne Abfahrt vom Berg hinab ins Dorf mit brennenden Fackeln durch die verschneite Nacht.
 Schuldbewusst schwieg ich und kaute auf meinem Haferschleimsüppchen, bis ich es nicht mehr aushielt und in der Toilette Zuflucht suchte, die ich an diesem Morgen nicht mehr verließ. Am Nachmittag gab es dann ein ernsteres Schauspiel; eines der größeren Mädchen im Heim erhielt den Besuch ihres Vaters. Diese Mädchen, hieß es Elisabeth Rödgen oder Röthke?, litt wie mir die Mutter später erzählte - unter epileptischen Anfällen, was aber für ihr Zusammenleben mit den anderen Kindern keine Schwierigkeiten brachte, jedenfalls nicht solche, deren ich mich erinnern könnte. Als nun ihr Vater zu Besuch kam, stand das Heim Kopf. Alles wurde doppelt so schön aufgeräumt, doppelt so sauber hergerichtet, und die Kinder mussten sich doppelt so brav verhalten. Als dann der Vater in seiner schwarzen Kleidung aus seiner schwarzen Limousine stieg, versammelten sich alle in der Eingangshalle und sangen zu seiner Begrüßung ein Lied, und die zwei Jugendleiterinnen sprachen süße Worte. Viel später erklärte mir Mutter, dass dieser Herr in der schwarzen Uniform ein hoher Berliner SS-Führer war, der seine Tochter in der 'Berghalde' versteckte, weil er für seinen eigenen erbkranken Nachwuchs Schlimmes befürchtete. Und ich erklärte Mutter noch sehr viel später, dass es sich um einen der Helfer Eichmanns gehandelt haben dürfte, eben um jenen Berliner Anwalt, der als SS-Hauptsturmführer über ein Außenamt der Dienststelle Eichmanns in Paris die Deportation und Vernichtung der französischen Juden organisierte.

 VI

 Die nächste Christnacht wollten wir zu Hause erleben. Zwar waren wir im Sommer 1940 noch einmal in Oberstdorf gewesen, dieses Mal jedoch im Sommer. Und da Oma Drost aus Werden mit in Oberstdorf war, und zwar in einer Pension bei einem Bauern mit einem lustigen Laufbrunnen in einem ausgehöhlten Baumstamm im Hof, bestimmte das Leben im Heim nicht ausschließlich den Ablauf der Tage. Außerdem waren Ferien, Sommerferien, und im Gegensatz zur ersten Mal musste ich nicht durch täglichen Unterricht und Übungen Schulversäumnisse wettmachen. Das Sommerhäuschen für Puppen im Garten der 'Berghalde' ist mir noch in heiterer Erinnerung, die Rollenspiele, die wir dort ausführten gleichfalls, und auch das Ende dieser Herrlichkeiten, als nämlich ein Hornissenschwarm sich dort einnistete und wir ihn lange Zeit unbehelligt beobachteten. Als wir dann aber unvorsichtiger Weise den Erwachsenen von unseren Beobachtungen erzählten und mit unserer Freundschaft zu den großen Bienen prahlten, wurde das Sommerhäuschen verschlossen und am letzten Ferientag rückte ein Kammerjäger an, der das ganze Puppenhaus gewaltig unter Dampf setzte und mit Rauch einhüllte, so dass die doch mit uns befreundeten Hornissen ein trauriges Ende fanden.
 Sonst beherrschen mich erfreuliche Erinnerungen an jene Ferientage; eine Wanderung in die hohen Berge und hinauf zur Mädlegabel war ebenso spannend wie anstrengend, dafür aber ein andermal ein Spaziergang entlang der Trettach mit ausgiebiger Plantscherei in ihrem eiskalten Gebirgswasser um so erholsamer. Dann kam auch noch der frisch pensionierte Onkel Willi Schäfer aus Essen nach Oberstdorf, Oma Paulas Bruder, und der las uns jeden Tag ein Märchen der Brüder Grimm vor und ließ sich gerne beim Spiel auf seiner Violine von jedem, der es wollte, bewundern.
 Durch ihn wurde Günters vierter Geburtstag zu einem Fest für alle Heimkinder, soweit sie in den Ferien nicht nach Hause gefahren waren, und uns. Ein erhaltenes Foto zeigt die Geburtstagstafel mit allen Teilnehmern, wie jeder einen besonders gebastelten Kopfschmuck trägt, und nur das Geburtstagskind schmückt eine zuckerhutähnliche Tüte aus buntem Krepp-Papier auf dem Kopf. Topfschlagen und Sackhüpfen, ein Eierlauf und Laufspiele mit Fangen im Garten schlossen zu aller Vergnügen das Fest ab.
 Pünktlich zum herbstlichen Schulbeginn fuhren wir nach Limburg zurück, und bald hatte uns der Schul- und Kriegsalltag wieder vereinnahmt. Meinen langen Nachhauseweg von der Wilhelmitenschule bis ins Galmerviertel versüßte ich mir schon mal dadurch, dass ich mir die Auslagen der beiden Limburger Spielwarengeschäfte in der Diezer Straße, nicht allzu weit weg von der Schule, anschauen ging. Bei Baldus lagen eher technische Spielsachen aus, Märklin-Baukästen und Spielzeugeisenbahnen, während Spielwaren-Müller mehr mit aktuellen Angeboten lockte, mit neuesten Kaufläden und elektrisch beleuchteten Puppenküchen, mit Schaukelpferden und Puppenwagen.
 Seit ich den Kosmosbaukasten „Der kleine Chemiker“ im Schaufenster bei Baldus gesehen hatte, wusste ich, was ich mir dieses Jahr zu Weihnachten wünschte. Mit der nahenden Weihnachtszeit trieben Mutters häufiger auftretende geheimnisvolle Andeutungen, die sie vor uns gleichermaßen ausbreitete und dennoch verbarg, unsere Weihnachtserwartungen auf ein stetig wachsendes Niveau hinauf. Das zeigte sich auch darin, dass ich immer wieder nach der Schule am Baldus'schen Schaufenster vorbeiging und nachsah, ob der Chemiebaukasten noch dort stand. Denn irgendwie war ich mir im Klaren, dass Mutter etwas mit der Rolle des Christkindes zu tun hatte, auch wenn ich mir dessen nicht sicher war. Als dann eines Tages der Kasten aus dem Fenster verschwunden war, glaubte ich Bescheid zu wissen. Auf verdeckte Andeutungen meinerseits reagierte die Mutter freilich unwissend, ja unfreundlich; aber gehörte sich das nicht so? Würde ich nicht gleichfalls unwirsch antworten, wenn die Mutter nach dem fragen würde, was ich ihr zum Fest bastelte? So blieb ich in quälendem Unwissen sowohl über das Christkind als auch über die Erfüllung meines Herzenswunschs.
 Als ich am nächsten Tag nach der Schule an dem Schaufenster ohne Chemiebaukasten vorbei schlenderte, kam mir die anscheinend erlösende Idee, wie ich des Rätsels Lösung finden konnte. Im Weitergehen dachte ich darüber nach, wo – wenn denn die Mutter den Chemiekasten gekauft hätte – sie ihn aufheben würde. Da der Kasten ziemlich groß war, kam dafür nur ihr Kleiderschrank in Frage. Als die Mutter am Nachmittag zum Bäcker um frisches Brot ging, schlich ich mich in Mutters Schlafzimmer und schloss eine Türe ihres Kleiderschrankes nach der anderen auf und öffnete sie. Zunächst fand ich nichts; dann zog ich eine alte Strickjacke herunter, die oben den Blick in die Hutablage verdeckte, und nun sah ich den blauen Deckel des Chemiebaukastens dort oben stehen. Mehr wollte ich nicht sehen, also versuchte ich die Strickjacke wieder dort oben hinauf zu bugsieren, was sich aber bei meiner bescheidenen Körpergröße als unmöglich erwies. Ich musste auf einen Stuhl steigen, aber im Schlafzimmer stand keiner. Also ins Wohnzimmer gehen, einen holen, mit der Strickjacke hinaufsteigen und diese vor den Chemiekasten legen – endlich hatte ich das geschafft. Ich stieg vom Stuhl, schob den zur Seite, und drückte die Schranktür zu.
 In diesem Augenblick hörte ich jemanden die Wohnungstür aufschließen. Geschwind schob ich den Stuhl ins Wohnzimmer, als die Mutter auch schon in den Flur trat, die Einkaufstasche an der Garderobe abstellte, um den Mantel abzulegen. Ich kam wie zufällig aus dem Wohnzimmer und trug ihr auffallend hilfsbereit die Einkaufstasche in die Küche. Dabei klopfte mir vor Aufregung das Herz bis zum Halse, aber, als die Mutter kein auffälliges Verhalten zeigte, glaubte ich, meine Untat sei unbemerkt geblieben.
 Froh wurde ich ihrer freilich nicht, im Gegenteil, es war nicht nur die Spannung, mit der wir Kinder auf die Überraschungen des Christabends zu warten pflegten, gänzlich verschwunden, ich wusste auch nicht mehr, ob ich mir wirklich einen solchen Chemiekasten hätte wünschen sollen. Alle die Experimente, auf die ich mich gefreut hatte, sie mit seinen Gerätschaften und Chemikalien auszuführen, fand ich mit einem Mal fade und uninteressant. Ja, bald ertappte ich bei dem Gedanken, der Mutter mein Vergehen zu beichten, was ich dann aber doch aus Angst vor den Folgen unterließ.
 Schließlich kam der Heilige Abend, und als wir vor der Bescherung auf den Moment warteten, in dem die seit zwei Tagen verschlossene Tür zum Wohnzimmer aufging und wir zum Christbaum mit seinen vielen brennenden Kerzen und der Krippe darunter hinzutreten konnten, packte mich Angst und ich wagte nicht, dorthin zu gehen. Wir sangen Zu Bethlehem geboren und Stille Nacht, heilige Nacht, Mutter spielte auf der Flöte, und dann durften wir von unseren Geschenken die Tischdecke aufheben. Auf meinem Platz lagen ein paar Kleinigkeiten, ein paar kratzig aussehende warme Strümpfe und sonst nichts. Sonst nichts? Günter war wie immer reich beschenkt, aber bei mir lag neben den Kleinigkeiten nur noch ein Briefchen mit einem kleinen goldenen Stern : FÜR Peter Paul. Ich riss den Brief auf und las: „Lieber Peter Paul, eigentlich hatte ich für Dich einen Chemiebaukasten als Geschenk vorgesehen. Aber ich lasse mir von neugierigen Jungen nicht meine Geheimnisse aufdecken. Denk mal selbst darüber nach. Das Christkind“ Damit begannen natürlich die Schwierigkeiten erst richtig: Wusste das Christkind wirklich von meiner Spionage? Woher aber? Wieso aber? Aber und aber und lauter Aber..

  Schule im Krieg - Krieg in der Schule

 I
 An die Schule habe ich recht zwiespältige Erinnerungen. Zwar war der erste Schultag Ostern 1939 wunderbar, und ich denke gerne an ihn zurück: Mit Schulranzen und Schultüte ging ich an Mutters Hand zur Wilhelmiten-Schule, nach einem einstigen Kloster benannt und teilweise noch in dessen Gebäuden untergebracht.
 Limburg hatte damals drei nahe beieinander gelegene Volksschulen, als Jungenschule die Werner-Senger-Schule neben dem Rathaus, als Mädchenschule die Hospital-Schule und unsere gemischte Schule. Die drei Schulen bestanden aus dunkelrotbraunen Ziegelbauten aus dem Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts, mit hohen Schulsälen und großen Fenstern, anheimelnd wie Bahnhofshallen. Die Schulhöfe gingen ineinander über, unserer hatte am Rande einige große Platanen, die heute noch stehen. Auf ihnen brüteten - wie heute noch - Dohlen und Krähen, und hinterließen im Überflug manchen weißen Klecks auf unseren Mützen und Ranzen.
 An unseren Schulteil grenzte die Anna-Kirche, die frühere Klosterkirche der Wilhelmiten, mit einem kostbaren, uralten gotischen Fenster, das in 18 kleineren Bildern das Leben Jesu darstellte. Und da diese Kirche immerzu offen stand, bin ich oftmals hineingegangen und habe mir diese Bilder angeschaut und ganz besonders die Geburt Jesu und seine Verehrung durch die Drei Weisen aus dem Morgenland in mein Kinderherz aufgenommen und bis heute bewahrt. Über dieses Fenster schrieb ich 15 Jahre später als Student meinen ersten Zyklus von vier oder fünf Erzählungen, die mir immerhin als künstlerische Prüfungsarbeit zu einer sehr guten Beurteilung im Ersten Staatsexamen verhalf.
 Am ersten Schultag stellten wir uns in Zweierreihen Hand in Hand auf dem Schulhof auf und wurden dann von einem Lehrer, der Grimm hieß, aber keinen solchen kannte, vielmehr die Liebenswürdigkeit selbst war, in unser Schulzimmer im alten Klosterteil geführt. Zu zweit saßen wir in Bänken, unter deren Tische wir unsere Ranzen schoben. Als wir alle brav saßen, öffnete Lehrer Grimm die große Klapptafel, und wir sahen in bunten Kreidefarben gemalt Hänsel und Gretel mit Schulranzen auf dem Rücken auf dem Weg zum Hexenhäuschen, das aber ganz harmlos und ganz und gar nicht verhängnisvoll unter den schönste Bäumen stand, mit Eichhörnchen auf dem Dach und bunten Vögeln auf dem Gartenzaun. Und während wir mit vor Staunen aufgerissenen Mäulchen das Märchenbild betrachteten, holte Lehrer Grimm seine Violine aus dem Geigenkasten und begann das Lied von Hänsel und Gretel, die sich im Wald verirrten, zu spielen, und wir sangen nach Kräften mit, denn das kannte wir alle vom Kindergarten her.
 Dieser Lehrer Grimm, ein erfolgreicher Bienenzüchter, hatte ein Herz für Kinder, das spürten wir sofort - und waren tief enttäuscht, dass er am ersten Tage nur unseren richtigen Lehrer, Arthen, vertreten hatte und wir am zweiten dessen sehr viel trockenere Bekanntschaft machten. Zwar lernten wir bei ihm tüchtig, aber wenn der gute Lehrer Grimm zum Singen oder zum Malen zu uns kam, wenn der uns Märchen vorlas oder Geschichten erzählte, oder uns das Neueste von seinen Bienen berichtete - dann lernten wir nicht nur tüchtig - sondern mit Begeisterung und Freude.
 Bei Lehrer Arthen war es weniger lustig. Die ersten Schreibversuche mit hartem Griffel auf unseren Schiefertafeln, auf die rote Linien aufgezeichnet waren, in die die ersten Buchstaben gar nicht hineinpassen wollten, weil unsere Händchen doch noch viel zu ungelenk waren und die Griffel viel zu störrisch. Und auch auf die Rückseite der Tafel mit den unendlich vielen kleine Karos, da sollten die Ziffern hineinpassen? Nein, das ging doch überhaupt nicht, und auch noch eine ganze Seite voll 3-er! Und wenn dann in der ersten oder zweiten Reihe eine 3 verunglückt war und ausgewischt werden musste, um sie dann ordentlich zu ersetzen, aber das kleine, nasse Schwämmchen machte, was es wollte, und in dritten Zeile und in der fünften sein Unwesen trieb .... Ach es war zum Weinen, nein zum Schreien, und die ganze Schule eine Quälerei, auf die man gerne verzichtet hätte, wäre da nicht ab und zu der Lehrer Grimm zu uns gekommen, hätte ein kleines Lied gepfiffen, eine Geschichte erzählt, und uns ein bisschen geholfen - da klappte plötzlich alles besser, und die Buchstaben gingen ordentlich in die roten Zeilen und die dummen 3-er purzelten nicht mehr aus den Rechenkästchen.
 Hatte am ersten Schultag der verehrte Lehrer Grimm uns mit einer Probe seiner musischen Begabung unser aller Herzen gewonnen, so verspielte unser Klassenlehrer schon wenige Wochen darauf alle meine Sympathie, die ich ihm doch so gerne entgegengebracht hätte. Wir hatten uns nach der Pause aufzustellen. Nun, das dauerte immer etwas, bis die Rasselbande ordentlich dastand, und wir die Treppen hinaufgehen durften. Diesmal stand die Bärbel vor mir, die ich eigentlich ganz gerne mochte. Aber sie beachtete mich nicht weiter, auch nicht, wenn ich beim Spielen immer ihr den Ball zuwarf und wenn wir rein gingen oder raus, ich ihr die Tür aufhielt. Also griff ich hinten nach ihrem Rock und hob ihn rauf und runter, um sie auf mich aufmerksam zu machen.
 Die Bärbel merkte das gar nicht, dafür aber der gestrenge Herr Lehrer Arthen umso mehr, packte mich am Kragen und transportierte mich unsanft die Treppe hinauf. “Du Bengel!” schnaubte er, ”Ich werde dich lehren, ein Mädchen zu belästigen!” Damit holte er seinen Rohrstock hinter dem Pult hervor, legte mich über die erste Bank und verpasste meinem Allerwertesten drei heftige Hiebe, so dass ich weinend auf meinen Platz ging. Nie habe ich jemandem von meiner Schmach erzählt, die mir weniger die verabreichten Schläge bedeutete als das erschrockene Entsetzen meiner Mitschüler über das, was ich wohl angestellt hatte, dass der Lehrer so zornig mit mir umging und mir zuletzt noch drohte, wenn ich mir das noch einmal erlauben würde, gäbe es 10 Hiebe mit dem Rohrstock auf die Finger.
 Im Nachhinein schüttle ich über die geringe Kenntnisse dieses Lehrers den Kopf, der die Gedanken und Gefühle eines kaum 6-jährigen Kindes so missverstand, dass er sie mit den Sitten- und Rechtsmaßstäben eines Erwachsenen glaubte ahnden zu müssen.
 II
 Da das Prügeln bei einigen Lehrern zur Methode gehörte, besser gesagt, die geringen methodischen Fähigkeiten zu ergänzen, wenn nicht gar in schwierigen Fällen ganz zu ersetzen hatte, wundere ich mich nicht, dass es damals auf unseren Schulhöfen und -wegen von dafür von Hause aus vorgeschädigten Schulkindern, vor allem natürlich Jungen, zu höheren Künsten entwickelt entwickelt wurde. Hatte man in der vormittäglichen Lese- oder Rechenstunde durch besondere Fehlleistungen geglänzt und war auch selbst mit Stockes Hilfe nicht auf die vom Lehrer erwartete Lösung gekommen - so sah man, kaum läutete die Schulglocke zur Pause oder zum Schulschluss, die Gelegenheit gekommen, die eingebleute Wut wieder aus sich heraus zu bleuen, wofür sich immer ein passendes Ziel fand. Mal war das ein Ziel aus der Kategorie der üblen Kameraden, die immer alles besser wussten, mal war es einer aus der Kategorie der Schwächlinge, die weniger Muskelkraft hatten und damit weniger Gegenwehr erwarten ließen, oder es war einer, der als Schnittmenge beider Kategorien für solchen Zweck geradezu prädestiniert war, zum Beispiel ich.
 Das war zweifellos die unangenehmste Seite des Bildungserwerbs, weil jeder noch so kleine Fehler sich in sehr schmerzhaften Erfahrungen auswirken konnte. Trotzdem versuchte ich - wie beim Spießrutenlaufen - mich möglichst weder von der einen noch von der anderen Seite treffen zu lassen, was mir von der Lehrerseite her, die berechenbarer war, nahezu immer gelang und mich mit guten Noten ungeschoren alle endeten sie mehr oder weniger durch die Volksschule und die ersten Gymnasialjahre kommen ließ. Leider ließ sich die Gegenseite der Spießrutenknechte weder berechnen noch austricksen, so vielerlei Versuche ich auch startete, alle endeten sie mehr oder weniger schmerzhaft.
 Traf ich auf dem Schulweg auf zwei oder drei dieser Helden, glaubte ich sie damit von ihren gewiss schon beschlossenen Quälereien abzulenken, indem ich ihnen eine große und interessante Neuigkeit auftischte. Darauf fielen sie nicht herein, im Gegenteil, sie hatten eine Neuigkeit für mich, weshalb der eine mich unter seinen Armen in den Schwitzkasten steckte und und der andere mir dann mit seinen neuen Schuhen in den Hintern trat. Wie solte ich mich da wehren? Die Lehrer, wenn man ihnen etwas klagen wollte, mochten das nicht hören und wandten sich ab oder sagten: “Ihr müsst euch vertragen, verstanden?”
 Versuchte ich mich mit so einem Prügelhelden anzufreunden, zeigte der mir alles andere als seine Bereitschaft. Versuchte ich es mit kleinen Geschenken, dachte ich zuerst, ich könnte mir deren Freundschaft oder wenigstens Bündnisbereitschaft erkaufen, waren meine bescheidenen Vorräten an Murmeln, und Glasglickern bald erschöpft, an Taschenmessern und Vogelschleudern hatte ich nichts zu bieten und Geld schon gar nicht. Also versuchte ich es noch mit Geheimnissen, die ich mit ihnen zu erforschen vorschlug, oder auch, freilich in späteren Jahren, mit Streichen und Abenteuern, mit denen ich ihren Heldenmut zu kitzel versuchte - allein das alles endete kläglich und oft genug in Tränen.
 Ich erinnere mich, dass ich in einer ziemlich schrecklichen Phase meines frühen Studiums der menschlichen Aggressivität darauf verfiel, meine magischen Kräfte zu entwickeln, indem ich zuerst das Vorhersagen erlernte und dann die Willensübertragung auf andere. Aber auch hierin scheiterte ich; immer trat mit absoluter Sicherheit genau das nicht ein, was ich vorhersagte. Später trachtete ich, mir die Sicherheit meiner falschen Vorhersagen zu nutze zu machen, indem ich Nichteintreffendes ankündigte; aber auch das traf nun wieder nicht ein, als ginge es mit einem geheimen Verwirrspiel zu.
 Ähnlich schlugen meine Versuche fehl, anderen meinen Willen zu übertragen. Schaute ich auch noch so lange, im Innersten dies oder das wünschend, ja befehlend, meinem Vordermann von hinten auf den Kopf, wie man das, dachte ich, zur Willensübertragung macht, aber bis auf die eine oder andere voraussehbare Handlung fügte sich keiner meines Willen. Wenn ich magisch befahl: “Beim nächsten Schellen der Schulglocke springst du auf!” hatte ich natürlich Erfolg und freute mich. Befahl ich aber: ”Steh auf und geh zur Toilette!” rührte sich nichts, und wenn ich den Befehl auch hundert mal wiederholte. Also musste ich mich bescheiden und meine magische Praxis einstellen, so leid mir das tat.
 Willkommen waren mir unter diesen Umständen natürlich alle Unterbrechungen des Schulbesuchs, und als solche wirkten nicht nur die Ferien, in denen Mutter mit uns Ausflüge und kleine Wanderungen unternahm, wie wir überhaupt viel zu Fuß unterwegs waren. Eine kleine Wanderung nach Linter und Mensfelden, von der wir dann in unseren kleinen Rucksäcken gesammeltes Fallobst mit nach Hause brachten, oder von Dietkirchen, wo es leckeres Bauernbrot gab, dass dazu auch noch etwas billiger als in der Stadt war, schöne runde Brotlaibe, die eben noch in unsere Rucksäcke passten. Als im Herbst 1939, ich war noch kein halbes Jahr eingeschult, der Zweite Weltkrieg begann, flüchtete Mutter mit uns nach Oberstdorf in die Berge, worüber ich schon berichtet habe. Als wir im Frühjahr 1940 nach Limburg zurückkehrten, und ich wieder in meine alte Klasse gehen musste, wirkten sich die alten Probleme dort eher noch schlimmer aus als vorher. Die Meute war noch wilder geworden, und ich stand ihr nun erst recht als Außenseiter gegenüber.
 Eigentlich müsste ich auf die Schulhofnöte mit Dankbarkeit zurückblicken. Das kindliche Training, ständig Bedrohungen möglichst frühzeitig zu entdecken und ihnen möglichst geschickt aus dem Weg zu gehen, hat mich einerseits hellwach werden lassen, Regungen und Entwicklungen in meinem Umfeld zu beachten, und andererseits zu einem Meister dritter Wege werden lassen, zwischen mehreren Unmöglichkeiten immer noch einen Ausweg zu finden. Bis heute ist das ein für mich typischer Charakterzug, nie dem Mainstream zu folgen und dessen Gegenteil ebenso zu meiden, sondern einen andere, ein unerwartete Lösung zu suchen und zu wählen. Das macht, wie jeder sich denken kann, den Umgang mit mir nicht gerade leicht; man hält mich wohl im weiteren Umfeld für unberechenbar, während viele, die mich kennen, wenn sie nicht weiter wissen, bei mir Rat und Hilfe suchen.
 Ich erinnere noch, dass von unserem Schulhof aus eine kleine Außentreppe, freilich nach einigen Stufen durch eine Tür verschlossen, zur Empore der Annakirche hinaufführte. Diese Treppe diente Pause für Pause den Jungen der Wilhelmiten-Schule als 'Burg', die jeweils von denen erstürmt und deren Besitz dann von denen verteidigt wurde, die sie als erste nach dem Pausenbeginn erreichten. Zu denen gehörte ich freilich nie, dennoch war ich sicher einer derjenigen, die am häufigsten auf der Burg waren, denn sie diente den Burgherren nicht nur als Herrensitz, sondern auch als Burgverlies, wo sie ihre Gefangenen verwahrten. Und einer der ersten, den sie in den Pausen zu fangen suchten und dorthin schleppten, und das unter all den Qualen, denen Gefangene traditionell ausgesetzt werden müssen, war ich.
  III
 In meinem dritten Schuljahr zeichnete sich eine Umstellung des Einschulungs- und Versetzungstermins von Ostern auf den Herbst ab. Mutter sah darin eine Möglichkeit, meine Schulzeit um ein Jahr zu verkürzen und meldete mich nach dreieinhalb Jahren Volksschule zum Besuch des Gymnasiums an. In Limburg gab es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Oberschule für Jungen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nun am Fuße des Schafberges neu errichtet, über einige Vorstufen zu einem vollwertigen Gymnasium entwickelt hatte. In den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts reformierte man diese Schule zu einem Gymnasium, in dem auf eine gemeinsame Unterstufe eine gymnasiale und eine realgymnasiale Oberstufe folgten. Diese beiden Zweige unterschieden sich vor allem dadurch, dass in dem einen der altsprachliche, im anderen aber der neusprachliche und naturwissenschaftliche Unterricht besonders betont wurde. Aber zunächst spielte diese Aufteilung der Oberstufe für mich keine Rolle; später freilich doch, als ich mich erst nach dem Krieg in einem Alter vor eine Wahl gestellt sah, deren Folgen ich nicht absehen konnte.
 Doch zunächst ergaben sich aus Mutters Plänen andere Schwierigkeiten. Nach dreieinhalb Jahren Volksschule wusste keiner zu sagen, ob und wie ich die Aufnahmeprüfung zum Gymnasium bestehen würde. Hier trat Onkel Anton in mein Leben, ein Bruder der Oma Schweitzer, von dem ich vorher nie etwas gehört hatte. Anton Kaiser war der Jüngste Bruder in der Reihe der Geschwister Kaiser in Hundsangen, hatte in Hadamar das Gymnasium besucht und sollte katholischer Priester werden. Von diesem Weg brachte ihn eine gewisse Adele ab, und er trat in die Kriegsmarine ein, in der er als Offizier bis zu seiner Pensionierung in Kiel wirkte. Durch Bombenangriffe und Zerstörung seiner Wohnung in Kiel von dort vertrieben, fanden er, seine Adele mit ihren beiden erwachsenen Töchtern in Limburg eine Unterkunft, zunächst zwar stilgerecht, aber doch nur zwei Zimmer im großen Haus des einst so berühmten Architekten Fachinger gegenüber der Kohlenhandlung Korkhaus in der Frankfurter Straße. Als pensionierter Offizier drohte seine ohnehin schmale Haushaltskasse bald in eine aussichtslose Baisse zu verfallen; notgedrungen erinnerte er sich seiner altsprachlichen Studien in Jugendzeiten und er verdingte sich am Limburger Gymnasium, dessen Lehrpersonal durch die Einberufungen der jüngeren Lehrer ziemlich geschrumpft war, als Lehrer für die altsprachlichen Fächer. Aber bald musste er auch in der Unterstufe Unterrichtstunden in den allgemeinbildenden Fächern übernehmen.
 Und so wurde Onkel Anton, der Oma Schweitzer vor allem durch nahrhafte Unterstützung ohnehin verpflichtet, mein Privatlehrer, der mich mit nachmittäglichen Übungen vor allem in der deutschen Rechtschreibung beglückte, die ja, wie hinlänglich bekannt, für Kinder schwer zu durchschauen ist, und im Rechnen, weil das Gymnasium die schriftliche und mündliche Beherrschung aller vier Rechenarten im unbegrenzten Zahlenraum voraussetzte. Offenbar war ich ein gelehriger Schüler, denn ich habe an die Stunden , die Onkel Anton mit mir in Oma Schweitzers Wohnzimmer abhielt, kaum eine Erinnerung, vor allem keine negative, und ich bestand nach diesem Parforceritt die Aufnahmeprüfung mit Bravour, sehr zum Stolz des Onkels, den ich eines Tages zu Mutter sagen hörte, die zwei kleinen Fehler im Diktat hätte ich mir doch auch noch sparen können.
 Enttäuschend fand ich dann im Herbst 1942, als ich ins Gymnasium eintrat, dass dort zwar große und weite Gänge und Treppenhäuser in wahren Hallen zu den geräumigen Klassen führten, auch viele Schüler um mich herumwirbelten, aber nirgends mein Onkel auftauchte, den ich doch so gerne begrüßt hätte und der mir ein Anhaltspunkt in der fremden Umgebung gewesen wäre. Bis er mir im Unterricht eines Tages dann wirklich begegnete, sollte ein Jahr vergehen; da übernahm er in unserer Klasse Erdkunde, und alle fanden seinen Unterricht höchst spannend und interessant, weil er mit seinen im wörtlichen Sinne Marine-Erfahrungen den sonst gerne langweiligen Stoff zu würzen verstand.
 Im übrigen blieb es nicht bei den zwei kleinen Fehlern im Diktat, wie man sich leicht denken kann, und ich hatte ganz schön zu kämpfen, mir in so vielen Fächern wenigstens eine mittlere Position im Leistungsbetrieb der Klasse zu sichern. Mutter versuchte meinen Leistungswillen dadurch zu unterstützen und in flauen Augenblicken wieder anzustacheln, dass sie mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich, falls ich mich nicht anstrengen und lernen wollte, ja wieder in die Volksschule zurückgehen könne. Ich sollte mir nicht einbilden, dass sie eine Klassenwiederholung hinnehmen würde. Diese Methode missfiel Tante Gretel, die neben ihren Bürostunden sich immerzu bemühte, mir zu einem vernünftigen Verhalten und guten Schulleistungen zu verhelfen, indem sie mich mit allerlei Fragen zu klugen Antworten herausforderte, mit mir Rechtschreibübungen veranstaltete und mit mir fleißig Englisch-Vokabeln einübte, und vor allem mir als Ehrenpreis für jede Arbeit mit Note 'Gut' zwanzig Pfennige Belohnung aussetzte. Beider Einstellung und Vorgehensweise blieben nicht ohne Wirkung auf mich.
Ich erinnere manches Detail ihrer Erziehungskünste, mit denen sie meinen Unarten abhelfen wollte, noch heute mit Schmunzeln: Auf dem Weg von Omas Garten im Tal Josaphat zurück sagte Tante Gretel,meines Geschwätzes müde zu mir:  "Also, Peter Paul, wenn du nun mal für 5 Minuten deinen Mund hältst, gebe ich dir einen Groschen." Darauf ich, vielleicht 2 Minuren später: "Sind die 5 Minuten jetzt um? Dass ich wieder reden darf?" Was will man da machen? Wie sich meine Haare nicht zähmen ließen, ein dicker Schopf mir immer wieder ins  Gesicht fiel, und ich mir Tante Gretels Haarklämmerchen nun wirklich nicht aufdrängen ließ, ich war schon ein reichlich nervendes Kind, FÜr Mutter wie für Tante Grtel. Nur der geliebten Oma folgte ich ohne Widerrede, und es würden Jahrzehnte vergehen is ich verstehen konnte, warum das so war.
 Wenn ich mich im Nachhinein frage, wie Mutter und Tante zu ihren unterschiedlichen Haltungen kamen, so waren es wohl bei beiden Erfahrungen mit einem Bruder. Mutters ältester Bruder hatte sich gegen Ende seiner Gymnasialzeit schon als Student gefühlt und wohl gemeint, als solcher müsse er sich vor allem auf eine bierselige Burschenherrlichkeit vorbereiten, was ihm statt der Zulassung zum Abitur ein Concilium abeundi eintrug und seiner elterlichen Familie, vor allem dem sehr bürgerlichen Vater, in der Kleinstadt Werden einen gewaltigen Ansehensverlust. Hätten ihre Eltern da schärfer reagiert, wäre es nicht dazu gekommen, war wohl die Lehre, die Mutter aus dieser schmerzlichen Jugenderfahrung meinte ziehen zu müssen. Ganz anders hatte Tante Gretel erlebt, dass ihr jüngerer Bruder, den die Oma in ihrer Krankheit und nach Opas Tod meinte streng erziehen zu müssen, zumal der Bursche als lustiger und zu allen Streichen aufgelegter Bengel ihr viele Geduldsproben abverlangte, was dann zur Folge hatte, dass es ihn, kaum aus der Lehre, nach Berlin zog, wo er bei der aufstrebenden AEG zwar seinen Beruf als Elektriker vervollkommnete, privat aber Schiffbruch erlitt, sich mit einer wesentlich älteren Frau verheiratete, und dann, um dem Arbeitsdienst zu umgehen, sich freiwillig zur Marine meldete, was die just geschlossene Ehe nicht überstand. Hätte ihre Mutter, sagte sich Gretel, mit mehr Verständnis und Geduld auf den Freiheitsdrang und die Vitalität ihres Bruders reagieren können, wäre es gar nicht zu der katastrophalen Ehe ihres Bruders als Mutterersatz durch eine ältere Frau gekommen.
 Unbewusst ist wohl jeder in seinen Reaktionen von Erfahrungen gesteuert, die er als junger Mensch macht, und ich weiß nicht, welche Erziehungsmethode dazu führte, dass ich, obgleich immer wenigstens ein Jahr jünger als alle anderen in meiner Klasse und in meinem Verhalten zeitweise für viele Lehrer eine wahre Qual, dennoch nie auch nur in die Nähe der gefürchteten Abschusslisten vor den Zeugniskonferenzen kam. Aber ich weiß, dass ich später in meinem Beruf als Erzieher und Lehrer bewusst weder der Mutter noch der Tante nachfolgte, sondern mich mühte, die rational erkennbaren Probleme junger Menschen aufzudecken und ihnen gezielt abzuhelfen. Doch davon später mehr.
 IV
 An die ersten Jahre im Gymnasium habe ich kaum Erinnerungen; wir taten die Schule mit ihren Pflichten so nebenhin ab, während doch um uns herum Gewaltiges geschah, das sich auf jeden und auch uns Kinder mehr und mehr aufdrängte. Schon auf meinem Schulweg, der mich täglich zweimal den Schienenverkehr von Ost nach West und später von West nach Ost am Bahnhof kreuzen ließ, rollten und donnerten und knirschten unendlich lange Transporte mit ganzen Heeresteilen und schwerstem Kriegsmaterial an uns vorüber. Und wir Knirpse standen an den Bahnschranken oder auch an den Zäunen neben der Gleisunterführungen und staunten, schauderten aber auch vor den geballten Gefahren, die da an uns vorbeirollten, indem wir uns vorstellten, dass all die Bomben und Granaten zum Explodieren bestimmt waren und die Panzer und Geschütze zum todbringenden Schießen auf Menschen und Städte. Natürlich waren wir Kinder stolz auf die tollen Kriegserfolge, die unsere Soldaten in Polen und Frankreich erzielten, und die Sondermeldungen über die Tausende von versenkten Bruttoregistertonnen, die beinahe täglich der Rundfunk vermeldete erfüllt uns mit Stolz.
 An Tagen, an denen die Erde feucht war, spielten wir mit kaum endender Begeisterung Deutschland erklärt den Krieg gegen ...; dazu zeichneten wir mit dem Taschenmesser zwei oder drei oder vier Felder auf die Erde, die Deutschland und Polen und Frankreich und England usw. bedeuteten. Dann wurde gelost, wer für Deutschland und wer für unsere Gegner kämpfen würde. Dann durften die Vertreter der Kriegsparteien nacheinander das eine Taschenmesser, das wir hatten, offen in eins der gegnerischen Länder schleudern. Blieb das Messer in der Erde stecken, durfte der Werfer durch die Stelle, wo das Messer in der Erde gesteckt hatte, eine Linie ziehen und das durch sie abgeteilte Feld zum eignen Land hinzunehmen. Natürlich wussten wir damals nichts von den geheimen Abmachungen zwischen Molotow und Ribbentrop, aber man sieht, wie Kinderspiele an unsichtbaren Fäden gezogen den Geist und den Ungeist großer Politik spiegeln können, oder auch, wie kindisch sich die Großen dieser Welt verhalten.
 Da alle meine Klassenkameraden schon über 10 Jahre alt waren, wurden sie in der Schule darüber belehrt, dass sie jetzt zu den Pimpfen des Jungvolkes, der Kindertruppe der Hitlerjugend zu gehen hätten. Man machte ihnen das damit schmackhaft, dass sie beim Jungvolk eine schöne Uniform bekämen, sogar ein Fahrtenmesser am Koppel tragen dürften, dass sie dort viel Sport und Geländespiele und Fahrten und Zeltlager geboten bekämen. Also, da konnte keiner widerstehen, warum auch, alle meldeten sich an - nur ich nicht. Weil ich erst 9 Jahre alt war, blieb mir das Jungvolk versagt.
 Ich fand das ungerecht, denn das, was da geboten wurde, war doch auch für mich höchst spannend; also quengelte ich in der Schule und bei den HJ-Führern, die die Jungvolkfähnlein unserer Altersstufe anführten, so lange herum, bis die einsahen, dass mich als einzigen von drei Klassen des Gymnasiums zurückzuweisen ein großes Unrecht gewesen wäre und ließen mich zu. Aber damit wurde ich noch keineswegs Pimpf, denn meine Klassenkameraden wollten mit dem Baby, das sie in mir sahen, erstens wegen ihrer altersbedingten Ehre nicht gleichgestellt werden und fürchteten zweitens, weil ich dazu noch als schlechter Sportler galt und ganz miserabler Fußballspieler, bei Wettkämpfen durch mich schlechter abzuschneiden. Aber weder die Lehrer noch die HJ-Führer wollten diese Einreden gelten lassen und blieben bei ihrer Entscheidung.
 Aber auch das öffnete mir den Zugang zu den Pimpfen noch nicht, denn meine Mutter war politisch von der HJ ganz und gar nicht begeistert. Dennoch hielt sie es nicht für gut, mich von der Allgemeinheit des Jungvolkes abzuhalten, weil sie eine Gemeinschaftserziehung für mich an sich bejahte. So zögerte sie, mich schon mit 9 Jahren dorthin gehen zu lassen, und war im Grunde froh, dass unser schmales Auskommen ihr die Entscheidung leicht machte: “Nein, für die Uniform und was dazugehört haben wir nun wirklich kein Geld”.
 Wie ich es dann doch schaffte, wenn auch etwas verspätet dennoch mit 9 Jahren zum Jungvolk zu kommen, weiß ich nicht mehr; ich weiß nur noch, dass es längere Zeit eine ziemliche Verstimmung zwischen mir und Mutter deshalb gab.
 Im Jungvolk brachte man uns militärischen Drill bei; den simplen Kasernenhof-Kommandos zu folgen lernten wir auf der Teewiese, einem primitiven Sportplatz auf dem Schafsberg, in Dreierreihen uns aufzustellen, abzuzählen, Meldung zu machen, und zu marschieren: Links, zwei, drei, vier, links, zwei, drei, vier ... Und weil das natürlich nicht sogeleich klappte, lernten wir auch, was Brüllen und dumme Bemerkungen ausrichtete, nämlich meistens nichts, jedenfalls nichts Gescheites.
 So wurde unsere anfängliche Begeisterung allmählich gedämpft, wenn auch spannende Geländespiele und ein in absehbarer Zukunft versprochener Aufenthalt in einem Jungvolklager für zeitweilig wieder anschwellende Begeisterungswellen sorgten. Aber bis dahin waren noch eine ganze Reihe von Liedern zu lernen und politische Gruppenstunden zu durchstehen, damit wir richtig lerneten, was es hieß, für den Führer und Deutschland im Dienst zu sein.
 Es muss im Sommer 1943 gewesen sein, als unser Fähnlein zu einem Lageraufenthalt nach Geilnau an der Lahn aufbrach. Tante Änne hatte mir widerstrebend einen Tornister ihrer Brüder geliehen, die als Soldaten im Felde standen, einen richtigen Affen mit Fell, auf dem man als Kopfkissen schlafen konnte. Mit der Bahn fuhren wir von Limburg bis Balduinstein, dann marschierten wir mit dem schweren Gepäck bis zum Lager am Heilbrunnen von Geilnau. Dort erwarteten uns eine Anzahl größerer Zelte um einen runden Platz, an dessen einer Seite ein Fahnenmast mit der Flagge der Hitlerjugend aufgezogen stand. Wir marschierten auf diesen Platz und setzten auf Kommando unser Gepäck ab. Dann erwartete uns, als wir losstürmen wollten und uns unsere Zelte ansehen und sie in Besitz nehmen wollten, die erste große Enttäuschung: Die Zelte waren von größere und älteren Hitlerjungen belegt, die sich das Gewusel von grünem Gemüse, das wir für sie bedeuteten, lautstark und handgreiflich vom Hals zu halten wussten. Das Ende vom Lied war, dass wir Jüngsten im oberhalb der Straße liegenden einstigen Verwaltungsgebäude des Brunnens untergebracht wurden, in einigen kleinen Stuben, in denen Stockbetten standen, in denen wir schlafen würden.
 Zu essen gab es erst gegen Abend Brote und Kakao zu trinken, dann wurden wir noch eine Stunde durch die Gegend gescheucht, um unsere Muskeln zu ertüchtigen, wie unser Gruppenführer uns sagte, und dann kam der Abendappell mit markigen Reden, ein paar Liedern und vielen Mücken, die es besonders auf unsere nackten Beine abgesehen hatte. Auch wurde es rasch kalt in den Lahnwiesen und besonders uns Kleinste erfasste mehr und mehr Sehnsucht nach unseren Betten. Als man uns endlich wegtreten ließ, stolperten wir mehr durch die Dunkelheit als wir gingen und verfiel mir meine Knie.
 In der Stube, als wir dort zu jammern anfingen, ermahnte uns Jost, unser Gruppenführer, wir dürften uns nicht so anstellen, und sagte uns, als wir wissen wollten, was uns am nächsten Morgen erwartete, wenn wir jetzt schön leise wären und bald schliefen, dürften wir uns am nächsten Morgen am Heilbrunnen waschen und nach Morgenappell und Frühstück mit ihm auf den Schießplatz gehen.
 Das Wort Schießübungsplatz wirkte wie ein Wunder. Die Älteren und Stärkeren verlangten sofortige Ruhe, und alles krabbelte und kroch in die Betten und zog sich die Wolldecken über die Köpfe. Ich tat es den andern nach; das Bett roch nach frischem Stroh und die Wolldecke kratzte an Armen und Beinen und meine Knie schmerzten, so dass ich nicht einschlief. Ich war nicht müde. Ich dachte nach. Morgen sollte also geschossen werden. Mhm. Alles, was ich von Gewehren wusste, war, dass es beim Schießen einen Rückschlag gab, wenn die Patrone gezündet wurde.
 Dabei wollte ich nicht mitmachen, auf keinen Fall.
 Deshalb überraschte ich am nächsten Morgen die anderen mit grässlichen Leibschmerzen, die mich nicht nur hinderten, das Bett zu verlassen, sondern auch die Kameraden veranlassten, Jost herbeizurufen, der sich um mich kümmern solle. Dem erzählte ich was von Blinddarmentzündung, die ich schon einmal gehabt hätte, und wegen der ich vor ein paar Jahren operiert worden sei. Das hätte damals genau so angefangen...
 Jost tat das Gescheiteste, was er in dieser Situation tun konnte, er drückte mir einmal auf den Bauch, und ich schrie programmgemäß schrecklich zum Himmel, und das überzeugte den Gruppenführer vom Ernst der Lage. Ob ich heimfahren wollte? Das wäre vielleicht das Beste, stöhnte ich, wenn nur die Schmerzen nicht wären. So blieb ich eine Weile im Bett, dann ließen die Schmerzen nach, und als Jost wieder nach mir sah, konnte ich schon aufstehen und ihm beteuern, wenn ich mich zusammennähme, könnte ich vielleicht zum Bahnhof gehen, langsam freilich, aber ich dächte, das sei wohl möglich.
 So konnte ich meine Siebensachen zusammenpacken, den Tornister aufsetzen, und mich, wenn auch von Schmerzen gekrümmt, so doch unter heldenhafter Missachtung meines Leidens aus dem Hause und vom Lager weg Richtung Balduinstein davonschleppen. Aber, o Wunder, nach der nächsten Straßenkehre, kaum konnte ich nichts mehr vom Lager mit den Schießübungen sehen noch hören, und man mich auch von dort aus nicht mehr beobachten, waren die Schmerzen verschwunden. Lustig und flink lief ich nach Balduinstein, wartete fröhlich auf den nächsten Zug, plauderte fidel mit dem Bahnhofsvorsteher, kaufte mir eine Fahrkarte und sagte dem schnöden HJ-Lager Ade.
 Die Mutter freilich ahnte, als ich vorzeitig und unerwartet zu Hause ankam, dass ich vor irgendwelchen Schwierigkeiten gekniffen hatte, und unerfreut empfing sie mich deshalb gar nicht liebevoll. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr von Bauchschmerzen und ähnlich Leiden vorschwindelte, jedenfalls sah ich mich fortan bei allen wirklichen Unpässlichkeiten stets dem Verdacht ausgesetzt, entweder ein eingebildeter Kranker zu sein oder bestenfalls ein großer Hypochonder. Wer einmal lügt ...
 
 6 Kindheitsjahre unter Sirenengeheul
 
 I
Schlimm kamen sie uns damals eigentlich nicht vor, unsere Kinder- und Jugendjahre in den Vierzigern, vielmehr abwechslungsreich und äußerst spannend. Pfingsten 1944 waren wir bei schönstem Wetter an der Lahn gewandert, waren von Bad Emsaus  durchs Mühlbachtal gewandert, hatten Arnstein besucht, und als wir gegen Abend in Obernhof zum Bahnhof kamen, ließ der Zug auf sich warten. Die Leute im Wartesaal waren zunächst fröhlich, dann, als sich die Ankunft des Zuges immer mehr verzögerte, wurden die ersten Wartenden unruhig, manche gar ärgerlich und schließlich, als draußen schon ein kühler Abendwind aufkam, war nicht nur unsere Mutter besorgt: „Es wird doch nicht ein Unglück geschehen sein?“ Nein, natürlich nicht. Der Zug wurde aufgerufen, an der Tür knipste ein Beamter die Fahrkarten, und die Fahrgäste drängten auf den Bahnsteig. Da hörte man den Zug durch den Tunnel kommen, das Stampfen der Dampflok, ihren scharfen Pfiff, ehe sie auf die Brücke rollte, und endlich fuhr ein langer Zug in den kleinen Bahnhof. Bremsen kreischten. Türen flogen auf. Wenige Reisende stiegen aus, viele wollten hinein. Die Schaffner liefen aufgeregt hin und her: „Beeilung! - Beeilung!“ Schon flogen die ersten Türen knallend wieder zu. Dann auch die letzten. Die Lok schnaufte, der Stationsvorsteher mit seiner roten Mütze pfiff und hob die rotweiße Kelle. Mein Bruder kletterte auf die Holzbank und rief begeistert: „Mama, es geht los! Wir fahren, wir fahren!“. Draußen huschten eben Obernhofs letzte Häuser vorbei, da stand schon ein Schaffner bei uns und verlangte die Fahrkarten. Als Mutter sie ihm reichte, blickte er kurz darauf und sagte: „Also, gute Frau, da wird nichts draus. Nach Limburg fährt der Zug heute nicht mehr, in Diez ist Schluss“. Sagte das und reichte ihr die Fahrkarten zurück und war schon aus dem Abteil verschwunden, ohne eine auch nur einzige Antwort auf Mutters besorgte Fragen „Ja, wieso das denn ? Wieso denn? Wie sollen wir denn nach Hause kommen?“ Das konnte ja munter werden. Später drängte ich mich neben meinem Bruder ans Fenster, das wir mit vereinten Kräften ein wenig herunterzogen. Die Erwachsenen protestierten; den scharfen Rauch der Lok und die kühle Abendluft mochten sie nicht leiden. Da wir soeben an Balduinsteins Bahnhof heranfuhren, ließen sie uns jedoch gewähren, vermutlich, weil sie hofften, auf diesem Wege etwas darüber zu erfahren, weshalb die Fahrt in Diez ihr Ende haben sollte. Aber dort waren nur wenige Leute auf dem Bahnsteig, und diese wenigen hatten etwas anderes zu tun, als unsere Neugier zu befriedigen. Doch nun kam der Schaffner wieder ins Abteil, und alle fragten ihn durcheinander und gleichzeitig, aber schließlich ließ er sich die knappe Auskunft abnötigen: „Schwerer Bombenangriff auf Limburg“. Mehr erfuhren wir zunächst nicht, vor allem nichts Näheres, welche Teile der Stadt es getroffen habe? Vielleicht unsere Gegend? Größere Schäden, gewiss? Und ob denn Menschen zu Schaden kamen? In Diez, als alle aussteigen mussten, konnte man uns auch keine Auskunft geben, oder man wollte es offenbar nicht, im Hinblick auf uns Kinder, die wir unsere Ohren weit aufsperrten, für die die ganze Wahrheit aber nicht bestimmt war. So mussten wir uns vom Diezer Bahnhof aus auf den Heimweg machen. Eine unfreiwillige Abendwanderung erwartete uns, und es war klar, dass sie als Nachtwanderung enden würde; unklar war allerdings, was wir zu Hause vorfinden würden. Hatte es die Südstadt getroffen, das Galmerviertel vielleicht gar? Es dämmerte schon; Wege und Straßen waren inzwischen wie leergefegt. Wen hätten wir fragen können? Als wir am Diezer Zuchthaus vorbeigingen, das still und drohend auf uns herabschaute, beschleunigten wir unwillkürlich unsere Schritte, redeten ein bisschen lauter, ja, Mutter sang leise, weil sie unsere gedrückte Stimmung fühlte: “Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ...“ Wir sangen leise mit, obwohl es mit unserer Lust nicht weit her war. Unerwartet tauchte vor uns ein Trupp Männer auf, der als Kolonne auf uns zukam. Unsere Sangeslust blieb uns im Halse stecken.. Wer waren die Männer? Wohin wollten sie? Soldaten waren es nicht, dazu fehlten ihnen Gewehre und Helme, und sie trotteten auch mehr als dass sie im Gleichschritt marschierten. „ Es sind Kriegsgefangene“, flüsterte die Mutter, so leise, dass nur wir es verstanden, „sie kommen sicher von der Arbeit und wollen ins Freiendiezer Gefangenlager“. An der Auskunft hatte ich so meine Zweifel, es war doch Pfingsten, wo sollten sie da gearbeitet haben? Doch tags darauf verstanden wir, woher sie kamen und das zu so später Stunde.
 Unser Weg führte uns endlos, wie wir Kinder glaubten, an den Bahnlinien entlang, bis wir von ihnen nach rechts abbiegen konnten und dann noch einmal endlos lange geradeaus auf den dunklen Horizont zu gingen. Mir kam der Weg bekannt vor, aber meinem drei Jahre jüngeren Bruder erschien er ganz fremd und und führte ihn nirgends hin, so dass er müde wurde und zu quengeln begann, zunehmend bummelte und bald an Mutters, bald an meiner Hand abgeschleppt werden musste. Doch dann tauchten die langen, weißen Mauerwände der Villa Fachinger aus dem Dunkel vor uns auf, und von da an gingen wir durch Feldwege, die zuletzt schon zu unserem Räuberrevier gehörten, an die Südseite des Galmerviertels heran, wo wir unser Haus und Heim unversehrt antrafen und hundsmüde in unsere Betten sanken. II
 Als uns die Mutter am kommenden Morgen aus den Federn scheuchte, wartete ein Tag voller Entsetzen auf uns. Nach dem Frühstück schickte sie mich zum Einholen zum Bäcker und um Lebensmittel, und ich machte mich halb bummelnd, halb im Dauerlauf auf den Weg, zur Bäckerei Ost, zuerst die Galmerstraße hinab, an die Einmündung in die Blumenröder Straße. Doch das fröhliche Rundschleudern des Einkaufsnetzes verging mir bald und meine Schritte wurden kleiner und verzögerten sich, je mehr ich mich meinem Ziel näherte. Hier roch es ganz ungewöhnlich und lag zwar unsichtbar, doch im Hals kratzend Staub in der Luft, so dass ich husten musste. Dann sah ich, dass die Straße abgesperrt war, und Mauerstücke und Trümmer ein Weitergehen unmöglich machten . Also lief ich den Berg zur Egenolf-Straße hinauf, um den Häuserblock herum und wollte die Blumenröder Straße runter zur Bäckerei Ost. Aber auch hier wurde ich durch eine Absperrung am Weiterkommen gehindert. Nun gibt es keine Absperrung, die einen Elfjährigen wirklich zurückhalten könnte. Rasch drübergeklettert wollte ich und nach links zum Bäckerladen. Da sah ich, was geschehen war: Das erste Haus links in der Galmerstraße war von einer Bombe getroffen worden; halb war es zertrümmert, halb stand es mit aufgerissenen Zimmern und in die Luft starrenden Holzbalken noch aufrecht. Über die Trümmer lagen zerrissene Kleidungsstücke zerstreut und zwischen den Backsteinen schauten Möbelreste heraus. Lange konnte ich nicht hinsehen, Trümmerstaub und -geruch vertrieben meine Neugier und schnell lief ich in den Laden. Das Kommissbrot war rasch ins Netzt verpackt, nur noch zum Bezahlen musste ich Brotmärkchen und das kleine 50-Pfennig-Stück aus der Tasche kramen. Darüber kommt eine Frau in den Laden, die Frau Ost mit tränenerstickter Stimme und den Worten begrüßt: „Ist das nicht schrecklich, was den Borbonus und dem jungen Toni passiert ist!“ So erfuhr ich, dass Toni, mein Schul- und Spielkamerad, am Tag zuvor im Luftschutzkeller des zerstörten Hauses verschüttet und erst nach langer Suche tot aufgefunden worden war. Erschrocken und verwirrt eilte ich nach Hause und heulte mich bei der Mutter aus. Natürlich versuchten die Erwachsenen, unsere Ohren vor Schilderungen des wahren Ausmaßes und besonders der tragischen Details dieses nun schon zweiten Bombenangriffes zu schonen. Aber so sehr sie zu Getuschel und vielsagenden Blicken als Verständigungsmitteln Zuflucht nahmen, wir spitzten unsere Ohren umso mehr. So erfuhren wir noch am selben Tag vom Schicksal der Frau Röder, der Mutter dreier etwas älterer Kinder als wir, die im gleichfalls getroffenen Nachbarhaus meines Schulkameraden ganz schrecklich getroffen wurde: Ihr durchbohrte die Absplitterung eines Holzbalkens Brust und Lunge. Trotz dieser schweren Verletzung schafften es Beherzte aus der Nachbarschaft, die Verletzte aus den Haustrümmern lebend zu bergen und ins Hilfskrankenhaus bei den Pallottinern zu bringen. Dort gelang es dem jungen Chirurgen Dr. Bremer in einer äußerst schwierigen und gewagten Operation den Splitter zu entfernen und die Verletzung so sorgfältig zu reinigen, dass Frau Röder nach einem längeren Heilungsprozess noch viele Jahre ihrer Familie vorstehen konnte.
 II
Mit dem Pfingstausflug nach Arnstein, mit der nächtlichen Heimkehr nach Limburg und den Erschütterungen des folgenden Tages durchschritten wir das Tor in einer großen Mauer, hinter der uns eine andere Welt erwartete. Plötzlich war alles nicht nur interessant und spannend und lustig oder öde – wir selbst fühlten von da an, dass das, was uns vorher so interessant vorkam, nun mit uns und an uns geschah. Es konnte auch uns treffen, ja wirklich, alles, und sogar das Schlimmste bedrohte auch uns. Damals ging mir auf, dass Krieg kein Spiel um die Wette war, wie wir es auf dem Schulhofboden mit unseren Taschenmessern spielten: 'Deutschland erklärt den Krieg gegen Engel-land …' Dass die Bombensplitter, die beim ersten Luftangriff auf Limburg dem Vater der Frau Emmerich aus unserem Haus den Leib aufgerissen und die Därme des alten Polizisten auf die Eisenbahnstraße geschleudert hatten, dass diese scharfzahnigen Stahlstücke sehr wohl auch uns und die Unsrigen zersäbeln konnten. Mutter ängstigte sich freilich noch mehr als wir. Wenn es fortan Fliegeralarm gab, ging sie mit uns nicht mehr in den Luftschutzkeller unseres dreieinhalb stöckigen Hauses, sondern nahm uns bei der Hand und lief mit uns in den nahen Eduard-Horn-Park, wo wir unter einer kleinen Fußgängerbrücke Schutz suchten. Zwischen den Bäumen stellte sie kein Ziel für einen Bombenabwurf dar, und würde uns notfalls sogar vor Herabfallendem schützen. Sie besprach das offen mit uns, und wir stimmten ihr zu. Bestärkt wurden wir in diesem makaberen Kalkül schon beim ersten folgenden Fliegeralarm, denn kaum hatten wir uns auf unsere Rucksäckchen niedergelassen, gesellte sich ein Junge zu uns und nahm auch dort Platz. Mein Bruder und ich waren überrascht, denn wir hatten ihn noch nie gesehen, und meinten doch, alle uns Gleichaltrigen in der Gegend zu kennen. Der Junge sprach nur gebrochen Deutsch; dennoch fanden wir bald heraus, dass er mit seiner Mutter aus Russland hierher gebracht worden war, und seine Mutter als Zwangs arbeiterin in der großen Ökonomie der Pallottiner arbeiten musste. Er nannte sich Iwan und hatte, wenn die Bomber über uns hinweg brummten und dröhnten, die gleiche Angst wie wir. Und da fortan Fliegeralarm zum alltäglichen Ereignis wurde, ja an manchen Tagen sogar mehrmals die Menschen aufscheuchte, trafen wir immer öfter mit ihm unter der kleinen Betonbrücke im Eduard-Horn-Park zusammen. Und da bald die Entwarnungen stundenlang auf sich warten ließen, packte unsere Mutter belegte Brote in unsere kleinen Rucksäcke und nahm in einer Thermoskanne etwas Heißes zum Trinken mit, für uns und Iwan natürlich auch. So entwickelte sich alarmbedingt eine Art nahrhafter Spielfreundschaft zwischen uns, bis eines Tages Iwan nicht mehr kam und für immer ausblieb. Wir rätselten warum, erfuhren aber vorerst nichts.
Als Messdiener in der Pallottinerkirche, die zugleich unsere Pfarrkirche war, wusste ich sehr wohl, dass die Patres und Brüder von der Gestapo scharf überwacht wurden, manche von ihnen damals in Haft waren, und an der Druckerei sah ich die staatspolizeilichen Siegel. Wir beobachteten mit Furcht diese Gestapomänner, die nicht nur die Villa Scheid neben dem Klostergelände beschlagnahmt, sondern sogar in einem Flügel des Klosters ihre Hauptdienststelle eingerichtet hatten. Am Garten dieser Villa entlang führte aber der Weg zum Eduard-Horm-Park, den Iwan zwischen der Ökonomie und unserem Alarmversteck lief. Auch wir mussten ein Stück Weges an diesem Garten entlang, und nahmen, um jedes Aufsehen zu vermeiden, wenn das Wetter es zuließ eine Abkürzung über Feldwege, denn eigentlich hätten wir statt unserer privaten Bombenflucht einen öffentlichen Schutzraum aufsuchen müssen. Später, wir waren indes längst zu echten Bunkerwanzen in einem der auch offiziell dazu eingerichteten Schutzräume in einem alten Bergwerksstollen avanciert, fragte ich Bruder Hamm, der vom Kloster für uns Messdiener zuständig war, was eigentlich aus Iwan geworden sei; dieser aber hielt nur seinen Zeigefinger vor den Mund und schüttelte seinen Kopf. Und meine Mutter, als ich daheim davon sprechen wollte, wies mich mit scharfen Worten zurecht, meine Neugier und meinen Vorwitz gefälligst zu zügeln und daran zu denken, dass sich schließlich Deutschland und Russland im Krieg befänden, und deshalb keiner wissen müsse, dass Iwan zu uns unter die Brücke gekommen sei. Mein Bruder und ich aber, wir erinnerten uns noch lange nach dem Krieg an Iwan und sprachen von ihm, bis wir Jahrzehnte später von einer zeitgeschichtlichen Untersuchung mehr über das Schicksal der im Krieg in Limburg in der Ökonomie der Pallottiner tätigen Zwangsarbeiter/innen erfuhren. Danach waren gegen Kriegsende für den Betrieb der Landwirtschaft und des im Kloster eingerichteten Zivilkrankenhauses hier internierte französische und russische Kriegsgefangene und auch verschleppte Arbeiter tätig, darunter auch Familien mit Kindern. Die erhaltenen Akten erwähnen in diesem Zusammenhang im Sommer 1944 eine Familie aus Lettland, zu der unser Iwan gehört haben könnte, schweigen jedoch über deren weiteren Verbleib und ihr Schicksal.
IV
 Immerzu verfolgten wir im Radio den „Jupp“. So nannten wir den offiziellen Vorwarndienst nach seinem Sendezeichen. Jupp .....Jupp.....Jupp. Solange der Jupp juppte, war alles in Ordnung, und das Leben konnte seinen gewohnten Lauf nehmen. Sobald jedoch das Sendezeichen verstummte, blickte jeder zum Radio hin, und einige Sekunden später begann mit „Achtung! Achtung!“ eine Luftlagemeldung, die feindliche Bomberverbände im Anflug auf bestimmte Gebiete ankündigte und damit die in deren Flugrichtung vorausliegenden Städte zunächst vorwarnte und bald darauf ihren vermutlichen Zielen Vollalarm verkündete. Dann heulten mit entsprechenden Zeichen die Sirenen ihre schauerliche Musik den Menschen in die Ohren und allgemeine Angst in die Herzen. Es suchte jedermann, der konnte, den nächstliegenden Schutzraum oder besser noch einen der sichereren Bunker auf, und das möglichst rasch, denn nicht selten hatten kaum die Sirenen geheult, erfüllte bereits Flugzeuggebrumm die Luft. Einmal saß ich beim Friseur Weißgerber im Schlenkert auf dem Stuhl, den weißen Kittel umgewickelt, und der Friseur hatte eben seine Kunst auf meiner rechten Kopfhälfte beendet und wollte zur anderen wechseln, als die Sirene Vollalarm gab. Sofort legte der Friseur die Scher beiseite und rannte, alle und alles hinter sich lassend, in den Luftschutzkeller. Den kannte ich nicht, und sein dunkler Flur und Keller machten mir mehr Angst als alle Sirenen und Bomber. Also rannte ich aus dem Haus, an der Scheid’schen Fabrik vorbei zur Frankfurter Straße und wollte in den Luftschutzstollen am Busche Weiher, den wir inzwischen zu unserem Bunkerasyl erwählt hatten. Dorthin liefen auch die Mutter und auch mein Bruder, wann immer wir konnten. So sehr weit war der Weg dorthin nicht, und es herrschte noch allgemeine Stille, sodass ich mir, als mir beim Laufen die Puste ausging, beruhigend sagte, ich könne auch gemütlicher gehen, der Bunker liefe mir nicht weg. Und so ging ich über die Kreuzung zur Frankfurter und dann ein Stück in den Weg zum Weiher hinab und den Weg abkürzend über eine kleine Gartentreppe zum letzten der beiden Häuser vor dem Weiher hinunter. Auf der Treppe traf mich dann an der Ferse des rechten Fußes etwas Hartes, zunächst kaum schmerzhaft, aber ich erschrak und hockte und bückte mich zwischen die Obststräucher, als auch schon ratternd und knatternd ein aus allen Rohren feuernder Tiefflieger über mich wegbrauste, der offenbar einen Zug auf der naheliegenden Eisenbahnlinie im Visier hatte. So schnell wie gekommen war der Spuk verschwunden; ich rappelte mich auf, sah neben der Treppe die Geschosshülse eines Überschweren Maschinengewehrs auf der Gartenerde liegen, und wusste nun, was mich am Fuß getroffen hatte. Leicht hinkend, aber erleichtert lief ich die letzten Schritte zum Bunker . Natürlich freuten sich, als ich bei ihnen ankam, meine Mutter und mein Bruder, die sich schon Sorgen um mich gemacht hatten, fingen dann aber an, sich über mich lustig zu machen, der ich ihnen noch gar nicht erzählen konnte, welch schrecklicher Gefahr ich glücklich entkommen war: „Dich hat’s aber auf der rechten Seite ganz schön erwischt“, spottete mein Bruder; und erst das erinnerte mich daran, dass mein Kopf halbgeschoren und gar nicht zum Lachen war.
 V
Die Bunkerzeit war weit abenteuerlicher, als man sie sich heute denken mag. Man stelle sich einen mannshohen und bestenfalls zwei Meter breiten Bergwerksstollen aus dem 18. Jahrhundert mit feuchten Wänden und schlüpfrig nassem Boden vor, in dem zum Teil beiderseits Bänke und Stühle standen, so dass man mit dem nötigen Handgepäck zwischen ihnen, zumal wenn die Randplätze besetzt waren, nur mit Mühe durchkam. Solange der Hauptstrom in einer Richtung anhielt, hinein bei Alarm, hinaus bei Entwarnung, ging es halbwegs unproblematisch zu. Schwierig, Fast unlösbarschwierig konnte die Situation werden, wenn jemand gegen den Strom gehen wollte oder gar musste. Zum Glück gab es im Stollen in gewissen Abständen rechteckig ausgehauene Ausweichstellen, mit deren Hilfe sich solche komplizierten Situationen lösen ließen - solange alle Ruhe und Humor bewahrten.
A propos Humor : Der Stollen am Busche Weiher hatte keine Toilette - als solche diente vor dem Eingang den schmalen Bergweg aufwärts eine Reihe hoher Bäume, die so genannte Kaktus-Allee.
Der Stollen war schwach elektrisch beleuchtet, die Allee nur von Mondenschein. Notausgänge waren zweie noch aus den Zeiten vorhanden, als man hier Erz förderte. Wo wir immer saßen, war eine kleine Erweiterung in einem Seitenstollen, der zu einem dieser Ausgänge führte. Da der Rettungsausgang zugleich der Luftzufuhr diente, waren unsere Plätze immer zugig und etwas kühler als der übrige Stollen, aber wir hattenfrische Luft, und das trug sicher zu unserem Wohlergehen bei. Dass außer uns nur wenige Leute in dieser Ausbuchtung ihre Stammplätze hatten, hing damit zusammen, dass hier kein fester Boden unter unseren Füßen war, sondern Balken und Bohlen, die einen einen einstigen Förderschacht in unbekannte Tiefen hinab abdeckten. Dass hier jeder Schritt einen dumpf dröhnenden Ton hervorrief, bewahrte uns vor der sonst im Stollen herrschenden drangvollen Enge. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir dort unsere Zuflucht nahmen, wie häufig wir tags, wie oft wir nachts dort saßen; jedenfalls wurde es immer häufiger, je mehr sich das Jahr 1944 seinem Ende näherte. Inzwischen war es unserer Mutter gelungen, in einem der beiden Häuser vor dem Stollen ein Zimmer samt Bett zu mieten, das uns mehr aus Barmher-zigkeit als aus finanziellen Gründen überlassen wurde. Egal, abends zogen wir dort ein, oft genug nur für eine oder zwei Stunden, und landeten kurz darauf schlaftrunken, an einem Bein mit einem Schuh und am anderen mit einem Strumpf bekleidet im Stollen, wo wir selig weiter schliefen, während unsere Mutter vor Angst um uns kein Auge schloss. Die Periode in diesem Stollen endete mit einem tragischen Ereignis, wie keiner erwartete: Bei einem nicht angekündigten Tieffliegeralarm war jeder, der konnte, in den Stollen gerannt, in dem es folglich zu Gedränge und unschönen Szenen kam. Dem wollte ein junger Luftwaffenoffizier, nur zwei Tage auf Urlaub in Limburg, entfliehen, und kam unzufrieden schimpfend in unseren Teil des Stollens, herrschte uns an, ob er hier zum Notausgang komme. Als Mutter ihm sagte, der sei nur für Notfälle gedacht, fuhr er ihr über den Mund und stürmte davon. Der Notausgang stieg eng und steil nach oben, das hatten wir Kinder längst ausprobiert, und führte oben durch einen betongeschützten Ausstieg ins Freie. Den stieg der junge Mann also hinauf - und wurde gleich am Ausstieg getötet, als ein Tiefflieger von Flakgeschossen getroffen seine Bombenlast am Hang des Greifenberges entlud.
 VI
 Nach dem Vorfall in unserer nächster Nähe betraten wir diesen Stollen nicht mehr, sondern flüchteten uns in einen moderneren Bunker, den die kriegswichtige Fabrik Scheid für ihre Zwecke in einen dem alten Stollen naheliegenden Felsen hatte sprengen lassen, um ihre Produktionen dorthin gesichert zu verlagern. Ein leitender Ingenieur dieser Firma namens Schramm, selbst Limburger, hatte erreicht, dass ein für die beabsichtigten Zwecke nicht benötigter Teil dieses hohen, geräumigen und vor allem trockenen Felsenraumes der Bevölkerung als Schutzraum freigegeben wurde, nachdem man seinen viel zu großen Zugang durch eine massive Mauer gegen Bomben und Beschuss abgesichert hatte. Überhaupt gab es für die Zivilbevölkerung in Limburg eine ganze Reihe Räume, in denen man vor den Schrecken des Bombenkrieges einigermaßen sicher war. In den Domfelsen hatte man von der Lahnseite her einen Stollen getrieben, im Eisenbahn-ausbesserungswerk einen hohen Bunkerturm errichtet, und es gab zudem noch viele mehr oder weniger gut abgesicherte Luftschutzkeller in der Stadt. Selbst weiter abgelegen vom Stadtmittelpunkt hatte die Brauerei Binding ihren großen Felsenkeller als Schutzraum zur Verfügung gestellt. Als einmal in der Stadt das Gerücht umging, nach abgehörten Berichten sei es gewiss, Limburg solle als Verkehrsknotenpunkt und wegen seiner Industrie völlig plattgemacht werden, und zwar am kommenden Tag, gerieten verständlicherweise die Menschen in Panik und reagierten wie eine Schar aufgescheuchter Hühner. Auch unsere Mutter befürchtete das Schlimmste, aber sie behielt einen klaren Kopf und sagte uns, sie wolle mit uns in den weit abgelegenen Binding-Keller gehen, der ganz sicher sei und bestimmt kein Ziel für Bombenabwürfe. Am nächsten Morgen waren in Limburg alle Bunker voll belegt, obgleich es noch keinen Alarm gegeben hatte. Dafür erschienen in den Bunkern in ihren schwarzen Ledermänteln die Herren von der Gestapo, und versuchten zuerst freundlich, dann mit einem drohenden Unterton, und schließlich offen schimpfend, schreiend und mit der Drohung ernsterer Konsequenzen die Bunkerinsassen zur Heimkehr zu bewegen: der befürchtete Angriff sei nichts als feindlicher Betrug. Da alle gingen, gingen wir auch, aber nicht nach Hause. Vielmehr gingen wir unter dem Bahndamm hindurch zum die Lahn begleitenden Treidelpfad, freilich nicht Richtung Stadt, sondern Richtung Autobahnbrücke. Bis dahin kamen wir freilich nicht, da heulten schon die Sirenen los: Vollalarm! So schnell wir konnten, liefen wir in den Felsenkeller zurück, in den Schutzraum hinein und nicht nur wir, sondern viel mehr Leute, als die nun verschwundenen Gestapo-Herren vorher vertrieben hatten. Nie war ein Sirenengeheul so willkommen, wie dieses, und als nach einiger Zeit nichts geschah, wurde die Stimmung im Bunker geradezu fröhlich und blieb es auch, als der Alarm stundenlang nicht abgeblasen wurde, obwohl immer noch nichts geschah und kein einziges Flugzeug sich Limburg näherte. Da für uns Kinder die Sache langweilig wurde, spielten wir indessen auf dem Platz vor dem Bunker Nachlauf und Versteck hinter dort lagerndem Leergut. Dabei fiel mir eine Gruppe Männer in exotischen Gewändern auf, die neben dem Bunkereingang standen, offenbar Kriegsgefangene, denn zwei bewaffnete Soldaten in Uniformen standen bei ihnen und rauchten. Auf mich machten diese Gefangenen einen traurigen Eindruck: Sie erinnerten mich mit ihren Gewändern und Turbanen zwar an die Hl. Drei Könige, wie ich sie zur Weihnachtszeit an der Krippe der Pallottinerkirche jährlich bewunderte. Aber ihnen fehlten nicht nur ihre Kamele und Elefanten, vielmehr schauten sie immer wieder ängstlich zum Himmel auf, und man ließ sie nicht in den Schutzraum hinein. Als ich an ihnen vorbei in den Bunker ging, hörte ich sie Englisch sprechen und verstand auch das eine oder andere Wort, und dabei verwunderte mich, dass mir mein Quartaner-Englisch half, Männer aus Indien zu verstehen, denn von dort kamen sie als freiwillige Soldaten des britischen Commonwealth, wie mir die Wachsoldaten erklärten. Als ich meinte, die Männer könnte man doch ganz gut in den Bunker lassen, es wäre doch schlimm, wenn ihnen bei einem Angriff etwas zustoße, lächelte der eine der beiden Wachsoldaten vielsagend, während der andere mir mit unmissverständlicher Geste gebot, gefälligst zu verschwinden.
 VII
 Nach schweren Bombenangriffen im Frühjahr und Herbst 1944 gab es gegen Jahresende zwar immer häufiger Fliegeralarm, sodass wir immer häufiger in den Scheid’schen Bunker mussten; doch je weiter das Jahr fortschritt, desto glücklicher schien die Stadt von schweren Angriffen verschont zu bleiben. Wir Kinder und viele Erwachsene hatten das Bunkerwanzenleben längst satt, und sahen nicht ein, dass wir uns vor den Sirenen herscheuchen lassen sollten. Die Zeit ging auf Weihnachten zu, und Mutter klagte bei Nachbarn, dass sie noch keine Zeit gefunden habe, einen Christbaum zu beschaffen. Und uns sagte sie, sie fürchte, dass es mit Weihnachten unter Bombendrohung sicher nichts werden würde.. Ihre Furcht war mehr als berechtigt. Zwei Tage vor Heilig Abend, über die Stadt wehte ein scharfer, eiskalter Ostwind, gab es Fliegeralarm, und wir machten uns vor Kälte bibbernd auf den Weg zum Bunker. Auf halbem Wege zeigte mein Bruder zum Himmel : „Guckt mal da! Lauter Christbäume am Himmel!“ Tatsächlich trieben eine größere Zahl wie kleine Weihnachtsbäumchen funkelnde Lichter im Wind über die Stadt in Richtung Schafsberg. Das hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten, da wegen der Fliegerangriffe ein striktes Verdunkelungsgebot bestand. Deshalb beschleunigten wir unsere Schritte, und als wir den Bunker erreichten, hörten wir schon erste Geräusche einer herannahenden Bomberstaffel. Kurz darauf platzte ein Inferno auf die Stadt herab, von dem wir im Bunker die nicht enden wollenden Explosionsfolgen hörten und heftige Erschütterungen spürten. Alle Menschen verstummten. Unsere Mutter fasste unsere Hände und zog uns ganz dicht an sich heran. Zwar wussten alle, dass der Felsenstollen wirklich sicher war, aber trotzdem erfasste, als das Licht flackernd erlosch, jeden Todesangst. Hier und da wurde eine Kerze entzündet, und aus dem Bretterverschlag, der der Bunkerverwaltung vorbehalten war, trat der Ingenieur Schramm mit einer Taschenlampe und forderte mit ruhiger Stimme auf, keinesfalls die Plätze zu verlassen und den zwanzig Metern Fels über dem Bunker zu vertrauen. Viele dachten weiter und falteten ihre Hände: Sie beteten zu Gott um Rettung. Endlich, nach der letzten Angriffswelle, gelang es Schramm mit seinen Leuten, den Dieselmotor für eine Notbeleuchtung anzuwerfen, und es erreichten uns die ersten Berichte über das Geschehen von draußen. Als einige Sirenen dünn Entwarnung gaben, gingen viele los, um nach ihren Häusern und Wohnungen zu schauen; die meisten jedoch, wie auch wir, trauten sich nicht, ins Dunkel und in die Totenstille hinaus, die noch immer von einigen durch Spätzünder ausgelöste Explosionen unterbrochen wurde. Erst gegen Morgen, als es schon hell wurde und sich die Meldungen zu bestätigen schienen, die Südstadt sei verschont geblieben, leerte sich der Bunker und auch wir trauten uns nach Hause. Am 23. und 24. Dezember 1944 jagte eine Schreckensnachricht aus den betroffenen Stadtteilen die andere: Wie sich nachträglich herausstellte, hatte der scharfe Ostwind die von einem vorausfliegenden Kommando positionierten Leuchtmarkierungen nach Westen abgetrieben, und so die nachfolgenden Bomber veranlasst, ihre tödliche Last nicht über dem Kern der Stadt sondern über deren westlichen Teilen abzuladen, viele schwere Sprengbomben und hinterher einige besonders hohen Luftdruck erzeugende Luftminen. Schwer getroffen wurden Wohnhäuser entlang der Diezer Straße, darunter das Haus, in dem meine Großeltern Sieber gewohnt hatten und meine leibliche Mutter aufgewachsen war. Viele Bomben gingen auf das ausgedehnte Bahngelände und dessen Gleisanlagen nieder, aber Glück im Unglück, sehr viele fielen auch ins freie Feld. Sehr, sehr schlimm jedoch traf es die in ihren Baracken ganz ungeschützten Kriegsgefangenen im Freiendiezer Lager.
Traurigere Weihnachten hat meine Heimatstadt nicht erlebt. Noch lange Zeit beschäftigte mich das Schicksal eines Klassenkameraden namens Sommer, der in einem damals neu erbauten Wohnhaus am Schafsberg an der Teewiese wohnte und mit seinen Eltern im häuslichen Luftschutzkeller den Angriff erlebte. Als so viele Bomben in der Nähe seines Wohnhauses explodierten, lief er in Panik aus dem Haus und rannte einen der kleinen Fußwege den Schafsberg hinauf. Dort erfassten ihn die Druckwellen der den Sprengbomben folgenden Luftminen; seine Eltern suchten ihn lange; sie fanden ihn am Weihnachtstag mit zerrissenen Lungen: tot.
 Dagegen war die Tatsache, dass dieses Weihnachten das einzige meines langen Lebens war, an dem wir - von mitleidigen Nachbarn uns auf den Balkon gestellt - zwei Christbäume hatten und doch keinen geschmückten, eine Nebensache, aber im Nachinein doch unvergesslich und symbolisch.
 VIII
Zu unseren Bunkererfahrungen gehörte auch, dass wir in den letzten Kriegsmonaten vor den Türen des Bunkers erlebten, wie Eis geerntet und in Kellern zum späteren Verbrauch eingelagert wurde. Wir Bunkerkinder vertrieben uns die Langeweile zwischen dem einen und dem nächsten Fliegeralarm mit Spielen und Aktionen auf dem zugefrorenen Weiher der Brauerei Busch, und wir sahen gar nicht gerne, dass deren Arbeiter, als das Eis richtig fest und dick genug geworden war, mit Sägen und Äxten anrückten, Löcher in die schöne glatte Fläche schlugen und dann mit langen Sägen das Eis in schmale Streifen schnitten. Diese zerteilten sie wiederum in meterlange Stücke, die aus dem Wasser gefischt und auf Wagen geladen und abtransportiert wurden. Dabei entstanden je nach Fortschritt der Arbeiten größere Eisinseln, die dann auf dem Wasser trieben. Den Älteren schauten wir Kleineren ab, dass man auf diese Inseln springen und sie mit einem längeren Stock wie ein Floß bewegen konnte. Das Wasser im Teich hatte aber auch ein wenig Eigenbewegung, und als ich mir nach der Größeren Vorbild ein Herz fasste, auch auf eine solche Insel zu springen, verzögerte ich erschrocken meinen Absprung, als genau in diesem Augenblick die Sirenen zum Vollalarm bliesen - und verfehlte die inzwischen davongetriebene Insel und stand plötzlich bis zum Bauch im Wasser. Wohl kletterte ich rasch zurück auf den festen Eisrand, aber ich triefte aus beiden Hosenbeinen und jeder Schritt wurde zu einem eiskalten Schauer, über die sich die, die noch nicht in den Bunker gerannt waren, köstlich amüsierten. Als ich dort eintraf, erwarteten mich nicht nur Scheltworte, sondern zusätzlich die Blamage, mich vor allen unseren Bunkernachbarn ausziehen zu müssen, bevor man mir eine wärmende Decke gönnte.
 IX
 Im Bunker als unserer zweiten Heimat erlebten wir auch das Kriegsende. In den letzten Märzwochen häuften sich die Tieffliegerangriffe derart, dass wir uns kaum noch aus der Reichweite des Bunkers herauswagten. Das änderte sich auch nicht, als wir erfuhren, die Amerikaner hätten die Stadt inzwischen eingenommen. Dem war am Palmsonntag ein letzter heftiger Bombenangriff vorausgegangen, und nach blutigen Kämpfen war inzwischen, so sagte man uns, auch die Südstadt den vorandrängenden Amerikanern zugefallen. Da wir mehrere Tage nicht aus dem Bunker heraus konnten, war uns das Brot ausgegangen. Als wir frühmorgens hörten, die Bäcker in der Stadt würden trotz allem noch backen und Brot abgeben, erbat ich mir von unserer Mutter etwas Geld und wollte versuchen, durch die Frankfurter Straße zu einer der Bäckereien vorzudringen. Die lief ich also hinab, überquerte auch ungehindert den Bahnübergang, neben dem auf einem Abstellgeleis an der Eisenbahnstraße eine Flak auf einem Eisenbahnwagen verwaist stand und ihre Rohre in den jetzt ruhigen Himmel richtete. Ich lief, was ich konnte, um vor  Meurers Bäckerei unvermittelt erstmals in meinem Leben auf einen toten Menschen zu treffen.
Da lag, wohl in der vergangenen Nacht gefallen, ein amerikanischer Soldat mit einem Schuss in die Stirn auf dem Rücken, die Arme nach hinten ausgebreitet, in der Rechten seine Maschinenpistole haltend, an der linken Hand eine ungewöhnlich große Armbanuhr. Er hatte ein ganz junges und schönes Gesicht, nur die schreckliche Wunde passte irgendwie nicht dahin. Als ich ihn sah, dachte ich urplötzlich daran, dass um ihn seine Mutter in Amerika bitter weinen werde. Sonst war die Straße menschenleer und um weiterzukommen, machte ich einen großen Bogen um den toten Soldaten. Die  Bäckerei Meurer war geschlossen, weshalb ich schnellstens weiterlief. Und ich weiß nicht mehr, wie ich in den Bunker zurückkam, nur noch, dass ich auch in den Bäckereien am Bischofsplatz nichts erreichte und schrecklich verwirrt den Bunker erreichte.
 Am gleichen Tag noch kamen amerikanische Soldaten in unseren Bunker, um diesen zu kontrollieren und zu übernehmen. Ingenieur Schramm, der in Vorkriegszeiten einige Jahre in den USA gewirkt hatte, ermahnte im Bunker alle, ihm evtl. vorhandene Waffen abzugeben, da er sie bei der Übergabe auszuliefern gedenke. Dem folgte man auch ohne Widerspruch, und als das Kommando zum Bunker kam, empfing er die überraschten Soldaten mit freundlichen Worten in exzellentem Englisch. Dann führte er sie in den Bunker hinein, die mit aufgespannten Eierhandgranaten in Händen an den Bankreihen der brav beiderseits in höchster, angstvoller Spannung dasitzenden Leute vorbeigingen. Die löste sich in allgemeines Gelächter, als Wickers Karla, vdie ersten Jahre mein Sitznachbar in der Schule, zum letzten der Soldaten, als der an ihm vorbeiging, lauthals sagte: “ Please, chocolate, please!“ und der, ein Farbiger übrigens, tatsächlich in seine Tasche griff und ihm einen Candy-Riegel reichte. Der Karla krähte: “Thank You, thank You!“ und hielt seine Beute strahlend in die Luft. Danach war die Übergabe des Bunkers nur noch eine Formalität, Schramm und einer der Soldaten trugen gemeinsam einen verdeckten Korb aus dem Bunker, vermutlich die eiegesammelten Waffen, dann inspizierten die Amerikaner noch den uns unzugänglichen Fabrikteil des Bunkers - und damit begann für uns die Besatzungszeit.
  7 Aus bitteren Anfängen zu treuer Freundschaft
  I
 Als wir nach Beendigung der Kampfhandlungen den Luftschutzbunker verlassen konnten und uns mit unseren Siebensachen auf den Heimweg machten, hatte sich unsere Heimatstadt Limburg gründlich verändert. Mit gewaltigem Lärm rollte eine endlose Schlange von Panzern, Kriegsgerät und Lastwagen durch die Frankfurter und dann die Wiesbadener Straße; daran entlang huschten wir zum Galmerviertel hinauf, Mutter vorneweg. Nun habe sie keine Angst mehr, sagte sie, man werde uns nichts tun. Mein Bruder und ich, wir waren dessen nicht so sicher, und so hielten wir uns dicht bei ihr und folgten ihr. An der Pallottinerkirche vorbei ging unser Weg und dann durch die Gärten hinüber zu unserem Haus in der späteren Goethestraße, der damals noch viel unverbautes Feld gegenüber lag.
 Die Straße vor unserem Haus war lang und breit und mannstief aufgegraben, zuerst als Splittergaben gedacht und zuletzt als Schützengraben benutzt. Ein oder zwei Tage zuvor war hier noch geschossen worden, waren Soldaten gefallen und verletzt worden. Aber davon erfuhren wir erst später. Jetzt sahen wir nur massenhaft leergeschossene Patronenhülsen herumliegen. Und überall waren amerikanische Soldaten, alle mit Waffen, auch die, die an den offenen Fenstern unseres Hauses standen.
 Als wir uns der Haustür nähern wollten, kam uns einer der vielen hier hin- und hereilenden schwerbewaffneten Amerikaner entgegen, und wollte uns mit deutlichen Handbewegungen wegjagen. Also blieb Mutter stehen und wir mit ihr, aber wegging sie nicht. Der Soldat, sein leichtes Schützengewehr über der Schulter, kam also auf uns zu und schrie lauter, als notwendig gewesen wäre:“Take off! Take off! Too dangerous for you! Take off!“ Mutter versuchte, mit bestem Schulenglisch dem Soldaten zu sagen, dass wir hier wohnten; aber der wollte oder konnte nicht verstehen - und wir verstanden seinen wohlgemeinten Rat auch nur als Herrschaftsgebaren der neuen Macht. Der beugten wir uns natürlich und kehrten den Weg, den wir gekommen, zurück, weil wir hofften, fürs Erste bei unserer väterlichen Großmutter in der unteren Frankfurter Straße unterzukommen, dem Postamt gegenüber.
Irgendwie entstand eine Lücke in der Schlange der Panzer und Wagen; aber die bestand nicht lange, da wurde sie schon von den Siegern ausgenutzt, eine große Menge ihnen in die Hände gefallener deutscher Soldaten in Gefangenschaft abzuführen. Die Gefangenen mussten mit über dem Kopf gefalteten Händen in breiter Reihe und Marschordnung vorangehen, alle mit müden und traurigen Gesichtern, manche mit blutigen Verbänden, zum Teil in schmutzigen Uniformresten, an beiden Seiten von GI’s mit Gewehren im Anschlag bewacht. Diese Bewachung mit bitterernsten Gesichtern ließ bei den Gefangenen keine Zweifel aufkommen, dass sie ihre Pflicht zu tun wüssten, falls einer zu fliehen versuchte.
 Fortan lebten wir mit zwei kurzen Unterbrechungen ein dreiviertel Jahr im Haushalt von Großmutter und Tante in der Frankfurterstraße 10 , einem Hinterhaus mit großem Hof gegenüber der Post. Mir war das sehr recht, denn ich durfte eine kleine Dachkammer neben der Tante beziehen, was mir eine wunderbare Selbstständigkeit erlaubte, während mein Bruder sich mit der Mutter ein Zimmer teilen musste, womit er unter strengerer Kontrolle stand.
Haus und Hof trennte ein längerer Weg von der Frankfurter Straße; hier hatte die benachbarte Eisenhandlung Fischer ihre Lager, deren eines mit seinem flachen Dach für uns von Mutters Fenster aus leicht erreichbar war. Das sollte bei schönem Wetter unser bevorzugter Aufenthalt werden, da wir hoch über dem Hof und außerhalb der ziemlich kühlen Wohnung niemanden störten - und keiner uns.
Vor allem aber waren Haus und Hof der allgemeinen Verwicklungen und Beunruhigungen entrückt, wie sie sich alltäglich auf der Reichsstraße 8 ergaben, deren örtlicher Teil die Frankfurter Straße war. In die steckten wir natürlich unsere neugierigen Nasen so tief hinein wie möglich und holten uns dabei einen Nasenstüber nach dem anderen. Limburg war in jenen Tagen wirklich alles andere als ein Abenteuerspielplatz für einen noch nicht 12 und einen 8 Jährigen. Wir streiften wissbegierig durch die Stadt, deren Anblick sich uns so erschreckend bot wie das eines zerfetzten Tiers: So viele zerstörte Häuser, einige ausgebrannt, riesige Bombenkrater mitten auf den Straßen, zwei gesprengte Brücken in der Lahn, ausgebrannte Panzer auf der Schiede, das Bahnhofsgebäude schwer getroffen, ungeheure Zerstörungen in den und längs der Eisenbahnanlagen, der Gemeindeteil des Georgshofes zertrümmert, viele Geschäftsgebäude ebenfalls, und wenn nicht ganz, so doch fast überall die Schaufenster und viele Fenster der Wohnhäuser durch die Explosionen. Schlimmer als diese Schäden waren die vielen zerstörten Menschenleben: Unzählige Tote, Verletzte und zerrissene Familien.
Als wir zum ersten Mal wieder in die Pallottinerkirche gingen, machten uns Spielkameraden darauf aufmerksam, dass man in der großen Schönstattkapelle im Klostergarten die gefallenen Soldaten zusammengetragen hätte. Natürlich wollten wir das sehen, und wir schlichen uns dorthin, fanden aber die Kapellentür verschlossen. So mussten wir uns mit einem Blick durch ein kleines Seitenfenster begnügen, durch das wir nur einen kleinen Teil der vielen, vielen Gefallenen sehen konnten. Nicht nur deren Anblick, auch der ätzend süße Leichengeruch jagte uns mit Grauen davon, gerade dem Pallottinerbruder und Krankenpfleger Hamm in die Arme. Der sprach lange und beruhigend auf uns ein, und sagte uns, es sei wirklich schlimm, was wir dort sähen, aber es sei am letzten Tag des Krieges weitaus Schlimmeres gnädig an ihnen vorübergegangen.
Als wir wissen wollten, was er damit meine, erzählte er, dass die Gestapo zuallerletzt das Kloster und mit ihm das ganze Krankenhaus in die Luft hatte sprengen wollen. Dass die Gestapo ihre Befehlsstelle unter dem Roten Kreuz auf dem Klosterdach untergebracht hatte, nahmen wir Bunkermenschen schon immer als empörenden Betrug und unrechte Vorteilnahme wahr, vor allem weil sie sich sonst immer als scharfe Hunde qualifizierten. Das jetzt zu hören löste bei mir zunächst ungläubiges Erstaunen aus, was sich jedoch rasch legte, als Bruder Hamm uns erzählte, wie sein Mitbruder Breisinger am Tage vorher zwei der Gestapobeamten beobachtete, wie sie im Heizungskeller verdeckt Sprengstoffpakete anbrachten und mit langen Zündschnüren versahen , was sie glaubten leicht unentdeckt tun zu können, da sie beide dort schon tagelang mit dem Verbrennen von Akten zu Gange waren. Doch Bruder Breisinger, der die Heizung zu versorgen hatte, habe sie beobachtet und daraufhin nicht aus den Augen gelassen, und, als die Autos zum Abrücken schon im Hof hupten, gesehen, wie sie die Zündschnüre anzündeten und davonstürmten. Kurz entschlossen habe er dann die Zündschnüre durchschnitten, und nun kämen in den nächsten Tagen die Amerikaner und holten die gefährlichen Pakete aus der Heizung ab
 II
 Die nächsten Tage und Wochen offenbarten uns und mir immer neue Schrecklichkeiten. Der Junge, der aus einem Kellerfenster heraus den ausgebrannten Panzer auf der Unteren Schiede mit einer Panzerfaust abgeschossen hatte, konnte mit dem Kriegsgerät nicht umgehen und hielt die Panzerfaust, während er zielte, sich vor den Leib, so dass der nach hinten ausströmende Feuerschweif ihn selbst traf. Er verbrannte ebenso jämmerlich, wie die im Panzer von ihm beschossenen Soldaten verbrannten. Dieses Ereignis meiner Kindertage, das damals alle Leute in der Stadt bewegte, wurde für mich zum abstoßenden Symbol für die grausame Sinnlosigkeit kriegerischer Gewalt. In einem anderen sah ich ihr Gegenteil vorbildlich verwirklicht. In der Zeit , in der wir bei Oma und Tante Gretel wohnten, machte letztere aus Versehen eine Bemerkung, die mich dazu brachte, Jahre später mir ihren politischen Hintergrund offenbaren zu lassen. Die Tante erzählte nicht gerne von sich selbst; ich musste ihr, wie man so sagt, Wort für Wort aus der Nase ziehen.
Sie hatte in den Jahre vor dem Krieg als Schwester in Schönstatt im Kloster als Kindergärtnerin gearbeitet und war, nachdem ihr Vater 1937 gestorben war, zu ihrer Mutter zurückgekehrt, um sie zu versorgen. Deshalb arbeitete sie als Büroangestellte in verschiedenen Limburger Ämtern, bis sie der Militärärztliche Leiter des Ersten Lazaretts im von der Wehrmacht beschlagnahmten St.Vinzenz-Hospital als seine Sekretärin verpflichtete und vereidigte. Ähnlich hatte dieser ranghohe Offizier, Hals-. Nasen- und Ohrenarzt vor dem Krieg, den Verwaltungschef des Montabaurer Krankenhauses, das dieser als einer der Barmherzigen Brüdern geführt hatte, auf unerfindlichen Wegen dienstverpflichtet und in die Schreibstube des Lazaretts geholt. Er gewann damit zwei in ihrem Umfeld als absolute Spitzenkräfte, die jedoch gegen die NS-Partei eingestellt waren und daraus keinen Hehl machten, für die Verwaltung des großen Lazaretts. Der Militärdienst sicherte sie gegen Zugriffe der Gestapo, und ihr Chef konnte deshalb nicht nur ihrer Loyalität absolut vertrauen, sondern sich auch auf ihre uneingeschränkte Dienstbereitschaft verlassen.
Die Kämpfe um Limburg hielten noch an, als zwei Schwerverwundete, beides Kriegs-gefangene aus dem Freiendiezer Stalag, in das Lazarett eingeliefert wurden. Beide erhielten zwar eine operative Erstversorgung, ihr Zustand blieb aber äußerst kritisch. Nun verboten die Bestimmungen der Wehrmacht eine Aufnahme von Kriegsgefangenen ins Lazarett. Und infolge dessen sah sich niemand des Sanitätspersonals im Stande, die beiden wenigstens so lange zu pflegen, bis eine Rückführung ins Lager möglich geworden wäre. Nach Rücksprache mit ihrem Chef nahmen deshalb die beiden Schreibstubenleute, der ehemalige Bruder und unsere Tante Gretel, eine Rotkreuzfahne und schoben zunächst den ersten der beiden sonst dem Tode Geweihten durch den Eschhöfer Weg zur Post und dann die Frankfurterstraße hinauf ins zivile Hilfskrankenhaus bei den Pallottinern. Sie benutzten dazu eine fahrbare Bahre, die der Hauptfeldwebel und die Tante schoben, die auch noch die Fahne schwenkte, denn links und rechts waren Nahgefechte im Gange. Da Deutsche wie Amerikaner ihnen Respekt erwiesen, fühlten sie sich nach und nach sicherer, und konnten den Schwerstverletzten noch rechtzeitig abliefern und auch die Bahre, auf die man einige Decken zusammenrollte und mit weißem Bettuch drapierte, ins Vinzenzhospital zurückfahren. Dort legte man den zweiten Verletzten auf die Bahre und überführte auch ihn ins rettende Krankenhaus. Das war nach den Bestimmungen über die Kriegsgefangenen ebenso unstatthaft, aber zunächst sah man den Verletzten ihren Status nicht an - und dann war die Gestapo schon über alle Berge davon und ihre Warnung im Safe des Lazaretts, die zwei Dienstverpflichteten der Schreibstube seien „wegen ihrer kirchlichen Bindung politisch unzuverlässig“ allenfalls noch Makulatur.
 
 III
Auf einem meiner Streifzüge durch die Stadt - es muss Ende April 45 gewesen sein - kam ich zum Rathaus, das unversehrt geblieben war, trotz einiger größerer Zerstörungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Ich fand das irgendwie tröstlich, denn hinter seinem ersten Fenster rechter Hand, das hatte mir die Mutter gezeigt, hatte mein Vater gearbeitet, ehe er vor 7 Jahren starb.Ob auch sein Arbeitsplatz und sein Schreibtisch erhalten geblieben waren? Ich ging also die breite Eingangstreppe hinauf, fand aber die große, nur schwer aufzudrückende Tür verschlossen. Im Umdrehen fiel mein Blick auf einiges Zeitungspapier. Nanu, gab es denn schon wieder Zeitungen?
Als ich näher hinschaute, sah ich Bilder und las ich Überschriften und etwas Text, die mir das nackte Grauen einjagten, Bilder von Toten, Erhängten, Verhungerten - Machten die amerikanischen Soldaten so etwas? Ich musste nochmals hinschauen, noch etwas lesen, dann wurde mir klar: Die Amerikaner hatten Lager entdeckt, in denen Deutsche solche Verbrechen begingen. Fassungslos rannte ich nach Hause, und verließ einige Tage lang nach Möglichkeit  meine Dachstube nicht. Mich ängstigten die Bilder zu sehr, und ich hätte um alles in der Welt nicht über meine Entdeckung sprechen können. Als aber einige Wochen später zwei oder drei Pallottinerpatres aus Dachau entlassen wurden und sie in der Pallottinerkirche predigten und von ihrer Haftzeit sprachen, überraschte ich, als bei Tisch die Rede darauf kam, Mutter, Oma und Tante mit der Behauptung, dass die Patres aber großes Glück gehabt hätten, dass sie noch lebten. Endlich war es heraus, was ich wusste, und ich musste und konnte den Großen von meinem Fund erzählen.
 III
 Dreimal mussten wir aus unserer Wohnung im Galmerviertel heraus und die Gastfreundschaft von Oma und Tante in der Frankfurter Straße in Anspruch nehmen: Einige wenige Tage unmittelbar nach Einstellung der Kampfhandlungen, drei Wochen 14 Tage später und kurz darauf noch einmal, dann aber für ein dreiviertel Jahr. Im ersten Zeitabschnitt waren es Soldaten der kämpfenden amerikanischen Truppe, die in unsere Wohnungen unmittelbar nach Nahkämpfen mit Widerstand leistenden SS-Männern einzogen. Sie hinterließen eine der Situation entsprechendes Durcheinander, hatten unser Geschirr und unsere Wohnungseinrichtungen benutzt, hatten aber außer der aufgebrochenen Wohnungstür keine ernsthaften Schäden angerichtet. Mein Bett war blutüberströmt, es war wohl ein Verwundeter hier versorgt worden. Schwieriger wurde für uns die Lage, als der zweite Zeitabschnitt endete, da Möbel und Inventar mehrere Wochen lang benutzt und den Bedürfnissen entsprechend in andere Wohnungen verschleppt wurden. So dauerte es einige Zeit, bis sich unsere Betten, Schränke, Tische und Stühle alle wieder bei uns eingefunden hatten. Das sollte aber nicht lange so bleiben, denn bald schon bekamen wir mitgeteilt, in einigen Tagen müssten wir erneut ausziehen und zwar für längere Zeit, und welche Sachen wir mitnehmen durften und welche in den Wohnungen zu verbleiben hatten. Und, damit man sich auch an diese Anordnungen hielt, stellte die Militärverwaltung in überschaubaren Abständen bewaffnete Wachposten vor unsere Häuser, die alle herausgetragenen Behältnisse kontrollierten. Natürlich fürchteten sich alle vor diesen Kontrollposten, aber bald stellte sich heraus, dass unter ihnen viele sehr großzügig ihrer Pflicht nachkamen und wohl weniger uns schikanieren wollten, als die verdeckte Beseitigung belastender Nazimaterialien und Waffen verhindern sollten. Zum festgesetzten Zeitpunkt mussten alle ihre Wohnungen verlassen und die Schlüssel den Posten abgegeben haben. Dann zog ins Galmerviertel ein Infanteriebataillon ein und nahmen nicht nur die Wohnblocks sondern auch die umliegenden Gärten, Wiesen und Felder für ihre Zwecke in Besitz. Waren seine beiden Vorgänger nur für eine kurze oder doch absehbare Zeitspanne in unseren Häusern abgestiegen, diesmal richteten sich die Amerikaner von vorneherein auf nicht absehbare Zeit häuslich ein, mit allem Drum und Dran; diese Truppe sollte und wollte demnach als Besatzung in Limburg bleiben. Der Chef des Bataillons war ein Major Broker, der seine Residenz im Jugendstilhaus der Bäckergenossenschaft aufschlug. Er und seine Administration waren die lokale Vertretung der amerikanischen Militärregierung und so zu sagen als Stadtkommandantur Ansprechpartner für die deutsche Zivilbevölkerung und deren Vertreter und Behörden. Die Truppe stand unter dem Befehl von Captain Donald L. Ford und einer Gruppe ihm untergeordneter Lieutenants, die den Kompanien vorstanden, unterstützt von Sergeants unterschiedlichen Grades. Die Leitung und Verwaltung für die Truppe war in der einstigen Jugendherberge in der Diezerstraße untergebracht, ihre Versorgungs- und Kommunikationseinrichtungen in der ehemaligen Landwirtschaftsschule in der Walderdorffstraße. Dort bewohnten auch die Offiziere einige Villen, und im Priesterseminar jenseits der Lahn richteten die Amerikaner ein Lazarett für ihre Leute ein, in dem eine Gruppe von Ärzten einigen Medics and Nurses vorstanden. Auf dem damaligen Marktplatz wurde ein Fuhrpark für die vielen Trucks and Jeeps der Truppe eingerichtet und für Deutsche unzugänglich eingezäunt, während die übrigen amerikanischen Einrichtungen zwar bewacht, jedoch frei zugänglich blieben.
 
V
 Diese relativ offene und in der Stadt zerstreute Unterbringung der Besatzungstruppe führte schon nach kurzer Zeit zu vielfältigen Kontakten zwischen den amerikanischen Soldaten und den einheimischen Zivilisten. Zwar wurde allen Soldaten ein striktes No fraternizing! eingeschärft , aber bis zur Verbrüderung musste es ja nicht gleich führen, wenn alltägliche oder gar nicht abweisbare Probleme von dieser oder jener Seite an die jeweils andere herangetragen und einvernehmlich gelöst wurden. So erinnere ich, dass sich der katholische Truppenseelsorger bei den Pallottinern mit Hostien und Messwein versorgte und öfters dort eine Messe feierte, bei dem ihm der eine oder andere von uns Messdienern dienten. Und dieser Kontakt war es dann auch, der zu einer ersten größeren Hilfsaktion führte. Als der mir gleichaltrige Willi Pabst, der nur wenige Häuser von uns entfernt wohnte, mit mir zusammen in die Schule gegangen und damals auch Messdiener war, plötzlich erkrankte und in eine tiefe Agonie verfiel, rätselten die Ärzte im Krankenhaus lange, bis sie eine sichere Diagnose stellen konnten: eine durch Tuberkelbazillen ausgelöste Hirnhautentzündung - damals unheilbar. Über den Militärgeistlichen und das Lazarett im Priesterseminar gelang es, aus Amerika Antibiotika zu seiner Behandlung zu bekommen, mit denen die Ärzte hier wochenlang den Kampf um das Leben meines Klassenkameraden führten, leider vergeblich für den armen Willi, aber ein vielbeachtetes Zeichen der Menschlichkeit, das allgemein überraschte.
Insgesamt legte sich relativ rasch eine erstaunlich friedliche Stimmung über die Stadt, in der einerseits die Besatzung - weil von der Bevölkerung stillschweigend hingenommen - unverkennbar ihre Macht demonstrieren konnte und andererseits die Bevölkerung versuchte, die Kriegsschäden und ihre Folgen nach und nach zu beseitigen oder doch wenigstens abzumildern - und darin im Einzelfall von den Amerikanern unterstützt wurde. Dass unter den fremden Soldaten eine größere Anzahl Farbiger ihren Dienst taten, war für die allermeisten Limburger zwar zunächst ungewohnt und für nicht wenige sogar furchterregend, bis sich deren als besonders zurückhaltend oder gar freundlich empfundenes Auftreten herumsprach und immerfort bestätigte.
 Dazu mag nicht wenig beigetragen haben, dass die Versorgungslage der Deutschen sich rapide verschlechterte. Nun, da die Importe aus den von deutschen Truppen besetzten und ausgeplünderten Ländern schlagartig ausblieben und eigene Erzeugnisse durch die vielfältigen Zerstörungen, darunter fast aller Verkehrsverbindungen, kaum noch in den Läden erschienen, glänzte der lässig zur Schau getragene Überfluss der Besatzer umso verführerischer. Was die wegwarfen, war für uns Goldes wert: Ihre Zigarettenkippen las man von der Straße auf, entfernte das Papier und rauchte den unverbrannten Tabak in der Pfeife. Die Speckseiten, die vor den amerikanischen Küchenzelten abgelegt wurden, wurden in deutschen Pfannen ausgelassen und lieferten bestes Schmalz. Von den in Wachspapier gegen Feuchtigkeit und Verderb geschützten Fertigmahlzeiten blieben an jedem Platz, an dem amerikanische Soldaten gerastet hatten, wertvollste Reste übrig: Fleischkonserven, Müslipäckchen, Süßigkeiten, Erdnussbutter, Marmelade, Kekse, Brausepulver, zwei oder drei Zigaretten mit Streichhölzern. Natürlich strichen wir Kinder, die bis zum Dezember 1945 keine Schule hatten, um die Quellen solcher Herrlichkeiten herum, so oft wir nur eben konnten - und die Soldaten duldeten das nicht nur in erstaunlichem Maße, manche hatten offensichtlich ihren Spaß an unserem Treiben, wenn wir nicht gerade eines der großen Benzinfässer umwarfen, in denen sie ihre Abfälle sammelten und wegschafften.
Es gab Soldaten, die Kinder wegjagten, wie man lästige Schmeißfliegen wegscheucht; es gab aber auch solche, die uns mit freundlichen Bemerkungen bedachten und kurze Gespräche anknüpften, denn das Bedürfnis nach harmlosen Kontakten war wohl auf beiden Seiten gleich ausgeprägt.
Und Kinder konnten auch ausgesprochen nützlich sein. Der Feldweg zwischen der Wiesbadener- und der Galmerstraße war nicht befestigt und deshalb dem ständigen Verkehr der Jeeps und Trucks nicht gewachsen. Bei Regenwetter weichte diese vielbenutzte Verbindung nicht nur auf, es bildeten sich wahre Schlammseen dort, und die recht flott durchfahrenden Wagen spritzten den Dreck nach allen Seiten. Den jungen Soldaten schien das Spaß zu machen, und wir standen in der Nähe, schauten staunend zu und lachten, bis eines der Jeeps im Matsch steckenblieb und sich - trotz Allradgetriebe - immer tiefer in den weichen Untergrund wühlte. In dem Jeep saß neben dem jungen Fahrer ein älterer Soldat, und wir sahen, dass beide keine Anstalten machten, auszusteigen und vermuteten, dass sie sich im Matsch nicht schmutzig machen wollten - aber trotz ihrer Bemühungen nicht flottkamen.
Ein Nachbarsjunge und ich, wir wussten Rat, liefen in den anliegenden Garten und holten zwei kleine dort liegende Bündel abgeschnittener Strauchzweige und warfen sie dem Jeep links und rechts vor die Räder. Die fassten wieder Boden, und der Jeep konnte weiterfahren. Die zwei Soldaten winkten uns dankbar zu und wir fühlten uns stark.
Einige Zeit später hielt ich mich in der Nähe unseres Hauses auf, aus dem ich den Älteren der beiden Schlammfahrer herauskommen sah. Als er mich erblickte, kam er auf mich zu und sprach mich an: „Aren’t you one of the boys ...?“ Er bedankte sich, und ich gab ihm zu erkennen, dass ich hier gewohnt hatte, bis wir das Haus hatten verlassen müssen. Daraufhin bot er mir an, mit ihm in unsere Wohnung zu gehen und zu schauen, ob ich noch irgendetwas dort herausholen wolle. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen; „Ich hätte mir schon gerne meine Dampfmaschine geholt“, antwortete ich, weil mir in dem Augenblick nichts Besseres einfiel. Er nahm mich wirklich mit in unsere Wohnung, wo ich sah, dass unser Wohnzimmer in ein Büro verwandelt war und Vaters großer Schreibtisch in dessen Mitte stand mit seinem Schreibsessel dahinter. Ich erklärte das dem Soldaten, der mir darauf erklärte, er benutze den Schreibtisch, denn der sei schön groß und gut für ihn als First Sergeant of this Company. Und er heiße Linder, und ich könne ihn jederzeit besuchen kommen, wann immer ich wolle. Auf den Schreibtisch werde er gut aufpassen. Und tatsächlich fanden wir ihn Monate später ebenso wie unseren großen Bücherschrank in bestem Zustand wieder, und ebenso alles, was wir an Papieren und Büchern hatten zurücklassen müssen. Meine Dampfmaschine durfte ich mir mitnehmen, und vor allem hatte ich fortan einen Zauberschlüssel, mit dem ich mir jederzeit Zugang zu dieser Abteilung verschaffen konnte. Ich musste nur erklären, dass ich First Sergeant Linder zu sehen wünschte, und schon brachte oder schickte man mich zu ihm.
 IV
 Elwood Leonor Linder kam aus Wisconsin; zu Hause war er Lehrer gewesen, und fand wohl Spaß daran, in mir einen neugierigen und gelehrigen Jungen zu finden, dem selbst lange Erzählungen nie zu lange wurden. Mir war die Bekanntschaft kostbar; nie hätte ich ihn um etwas angebettelt oder seine Bekanntschaft irgendwie ausgenutzt, dafür war mir das, was ich von ihm erfuhr, viel zu interessant. Er erzählte mir vom Leben der amerikanischen Kinder, von seiner Schule, davon, dass er als Lehrer so wenig Geld bekam, dass er sich nachmittags als Schiedsrichter auf den Sportplätzen etwas dazuverdienen musste, um sich und seine alte Mutter unterhalten zu können. Von den Schoolboards erzählte er mir und interessierte sich für meine deutsche und meine lateinische Handschrift, und zeigte mir, wie amerikanische Schulkinder in der Schule schrieben. Er wollte auch unsere Familie kennenlernen, und machte im Laufe der Monate, die seine Truppe in Limburg lag, von meinem Bruder und mir auf der Treppe der Landwirtschaftsschule eine Aufnahme, die er seiner Mutter schicken wollte, und von der ich heute noch einen Abzug besitze. Mit ihm stand ich noch lange Jahre in brieflicher Verbindung, und ich war selbst schon jahrelang Lehrer, als ich eines Tages meinen letzten Brief an ihn zurückgesandt bekam mit der Bemerkung : Mr. Linder died last week. Damals lebte seine Mutter noch, und ich kondolierte ihr selbstverständlich. Darauf sandte sie mir ein Bild ihres großen weißhaarigen Elwoods, auf dessen Rückseite sie zittrig schrieb: He was my very beloved son.
Unvergesslich blieb meine erste Tätigkeit als ‘Dolmetscher’ in seinen Diensten. Ich war mit ihm bei der Truppenverwaltung in der Jugendherberge, als dort eine heftige Diskussion zwischen den Soldaten und einigen ihrer deutschen Kriegsgefangenen ausbrach, deren Ursache ich so wenig kannte wie ich die beklagten Tatsachen wirklich verstand. Da aber die Gefangenen dort im Untergeschoss Handwerksarbeiten verrichten mussten und Schilder schreiben und bemalen mussten und in der Auseinandersetzung häufig ein Wort vorkam, das sich wie das deutsche Lachs anhörte, schloss ich messerscharf, es ginge darum, für weitere Schilder verschiedene Lacksorten zu besorgen. Ich bot an, das Nötige zu besorgen und fragte Linder also, how many ? - wie viele man benötige und erhielt die Antwort fünf oder sechs, and how much ? - und wie viel - - worauf er mich verständnislos anblickte, weil er meine Frage nicht verstand. Ich bohrte mit der Erklärung nach, was sie da wollten, gäbe es nur in Kilo-Dosen, worauf wiederum unverständiges Kopfschütteln erfolgte. Ja. OK. Und welche Farbe sollte es sein? Braun oder Blau oder Rot? Also schön, wenn es die nur in Kilo-Dosen gebe, dann getrost. Die Farbe spiele überhaupt keine Rolle. Nur sollten wir - einer der Soldaten und ich - uns eine Rechnung ausstellen lassen und sie ihm vorlegen. Von der Jugendherberge zum Farbenhandel Büdel in der Salzgasse waren es nur ein paar Schritte, aber der mich begleitende Soldat bestand darauf, mit dem Jeep dorthin zu fahren. Nun waren aber Lackfarben damals Mangelware und 5 oder 6 Dosen schon eine ungewöhnlich große Menge. Nach einigen Verhandlungen erstanden wir schließlich 4 Kilodosen rotbraunen Fußbodenlacks und 2 Dosen schwarzen Ofenlacks. Und stolz über unseren Erfolg präsentierten wir sie der Verwaltungsstelle - und wurden gründlich ausgelacht. Linder erklärte mir, es seien in der vergangenen Nacht Einbrecher im Keller gewesen und hätten einiges gestohlen, deshalb müsse man möglichst rasch die aufgebrochenen Türen mit einigen locks - Schlössern absichern. Nun, die besorgten wir mit größeren Mühen anschließend - und daran anschließend sah man in Limburg noch viele schöne Schilder mit lackglänzenden Aufschriften in Rotbraun und Lackschwarz, die die Gefangenen mit unserem Lack kunstvoll gemalt und die Soldaten für ihre Zwecke aufgehängt hatten.
Linder selbst muss wohl in der Verwaltung von meinen spektakulären Übersetzungskünsten erzählt haben, denn hiernach waren diese, wenn auch oftmals von einem leicht ironischen Lächeln begleitet, immer häufiger gefragt, und, da ich in Zweifelsfällen nun gründlich nachfragte, gewöhnlich ausreichend. Selbst zu wichtigen Verhandlungen zog man mich hinzu, z. Bsp. wenn ein Soldat eine Familie suchte, um dort seine Wäsche waschen und bügeln zu lassen und man ausmachen musste, wo und wann die Übergabe erfolgen und wie hoch die Leistung in den gängigen Einheiten der damaligen Naturalwährung gezahlt werden sollte.
Aber nicht nur solch triviale Händel hatte ich zu begleiten, oftmals ergaben sich auch Gespräche über Sitten und Bräuche, über dieses und jenes Schriftstück, ja über Persönliches. Dann ging es weniger um eine richtige sprachliche Übersetzung als um eine sachliche oder auch zwischenmenschliche Verständigung. Dem Zwölfjährigen Jungen, der neben ihm im Jeep saß, erzählte manch einer das, was er keinem in seiner martialischen Umgebung erzählte, obwohl es ihm auf der Seele brannte und über die Lippen wollte. Da war ein Brief gekommen mit einer schlimmen Nachricht, oder es kam keine Nachricht von der Liebsten daheim, jetzt schon seit Wochen nicht mehr. Die Frau erwartete ein Baby, und die letzte Geburt war so schwierig gewesen. Ein anderer hatte schlecht geträumt, von einer schrecklichen Szene im jüngst vergangenen Kampf am Rhein.
 VII
 Aber auch für die Soldaten war der Umgang mit mir nicht nur lustig. Einmal, ich hatte einen der Amerikaner in die Stadtkommandatur begleitet, weil ich ihm, der sich gegen banale Vorwürfe einer Frau wehren wollte, die deutschen Verhandlungsteile übersetzen sollte. Da sich das ganze als Missverständnis in Wohlgefallen auflöste, gingen der Soldat fröhlich pfeifend und ich ihm voraushopsend die große Treppe der Bäckergenossenschaft hinunter und aus der Türe hinaus und schon lief ich zwischen zwei parkenden Autos auf die Straße, weil unser Jeep auf der anderen Seite unter dem Vordach einer Tankstelle stand. In dem Augenblick kam ein anderer Jeep von der Seite, dessen Fahrer mich so wenig sah wie ich ihn. Ich wurde von dem Fahrzeug erfasst und auf die Seite geschleudert, wo ich einen Augenblick besinnungslos liegen blieb. Als sich wieder zu mir kam, konnte ich nicht mehr atmen. Dem um mich besorgten Soldaten antwortete ich auf seine Fragen stimmlos “ I can’t get any air.“ Worauf er mich hochhob, auf seine Arme nahm und zum Jeep des Fahrers trug, der mich angefahren hatte, bei ihm einstieg, und im Hurra ging’s los: die Grabenstraße runter, zur Pontonbrücke über die Lahn und zum Priesterseminar hinauf ins amerikanische Lazarett. Inzwischen hatte ich mich von dem anfänglichen Schock etwas erholt und konnte dem diensttuenden Arzt Rede und Antwort stehen, der aber damit nicht zufrieden war, sondern mich ganz vorsichtig aber sehr gründlich untersuchte. Und das mit dem Ergebnis, ich hätte viel Glück gehabt, aber am nächsten Tage werde ich von den erlittenen Prellungen an vielen Stellen blaue Flecken haben und gehöre für die nächsten 10 Tage ins Bett, strenge Ruhe einhaltend, damit die Gehirnerschütterung gründlich ausheile. Als mich der Soldat, dessen Name ich nicht mehr erinnere, zuhause ablieferte, erschraken Mutter und Oma; ich aber verschwand in meiner Dachkammer und ließ mich sehr leidend pflegen. Am nächsten Tag kam Linder nach mir sehen, und was er mit Mutter besprach, blieb mir natürlich verborgen. Der Unfall war eindeutig meine Schuld, und ich wartete die 10 Tage geduldig ab, wenn ich Schritte auf der Treppe hörte, immerzu fürchtend, nun komme die Military Police oder ein deutscher Polizist, mich zu verhören oder gar Schlimmeres veranlassend. Mehrmals kam der Soldat, der sich Vorwürfe machte, nicht besser auf mich aufgepasst zu haben, und überzeugte sich von der Besserung meines Zustandes und mich von der Qualität amerikanischer Süßigkeiten.
 In diese Zeit fiel auch jenes Vorkommnis, über das ich damals viel nachdachte, aber niemals mit jemandem besprach. Im Verkehr mit den Soldaten bekam ich natürlich vieles mit, das zu ihrem militärischen Dienst und Alltag gehörte. Die Pflege ihrer Waffen und Geräte, die Aufbewahrung ihrer Vorräte, was sie sich im PX-Shop holten, wie ihre Gesundheitskontrollen abliefen, was bei ihren Appellen von ihnen verlangt wurde usw. Viele Zusammenhänge verstand ich nicht, viele Ausdrücke blieben mir sprachlich unverständlich. Aber nun wirklich nicht alles, und ich wunderte mich über die Vertrauensseligkeit, mit der sie mir begegneten. Ich habe sie nicht missbraucht, ich habe nie etwas ausgeplaudert, was nicht allen und jedem offensichtlich war. Unter dem mir Bekannten ganz und gar nicht für andere Ohren Bestimmten gehörte eine geheim angeordnete allgemeine Razzia auf Waffen und Nazimaterialien, die alle Häuser und Wohnungen und sonstige Gebäude in Limburg betreffen würde. Zwei Tage vor dem Termin gaben mir drei Soldaten zu verstehen, dass so etwas bevorstehe, und ich gut daran täte, Eltern und Verwandte zu warnen, denn es drohten ernste Strafen. In unserem Haushalt gab es nichts dergleichen, und hatte es auch weder das eine noch das andere je gegeben. Doch, meinen Jungvolk-Dolch und eine Kleinkaliberpistole, die ich gegen Kriegsende einem Schulkameraden gegen daheim geklaute Zigaretten abhandelte, aber beides hatte ich schon nach dem großen Angriff vor Weihnachten in den Busche-Weiher versenkt. Ich blieb Tag der Razzia zu Hause, empfing die bis an die Zähne bewaffneten Kontrolleure an der Wohnungstür, rief die Mutter hinzu und wir gingen mit ihnen in alle Räume. Sie kontrollieren genau, wie es ihre Pflicht war, und gingen mit einem OK die Treppe hinauf zur Nachbarwohnung.
VIII
 Zur selben Zeit sehe ich mich noch als 12-Jährigen, weil die Eisenbahn noch nicht wieder fuhr, allein den Schienen folgend von Limburg nach Niederzeuzheim gehen, wo ich aus der Decherschen Mühle durch Vermittlung einer Freundin der Mutter etwas Mehl abholen konnte. Auf den Schwellen der Bahn konnte ich ebenso schlecht gehen wie auf dem Schotter des Bahnkörpers; die Abstände der Holzbalken passten nicht zu meiner Schrittlänge und die spitzen Basaltbrocken der Stückung führten auf die Dauer zu Schmerzen an Fußsohlen und -gelenken. Das eine war nichts und das andere auch nicht, ich musste einen anderen Weg nach Hause finden, zumal nun noch 25 Pfund Mehl und Grieß in meinem Rucksack meinen Rücken quälten. Aber ich fand über Wege neben der Bahn und querfeldein nach Hause und fiel abends stolz und todmüde in mein Bett: Mutter hatte wenigstens Mehl zum Backen und Grieß für Brei.
 
So wurde die zweite Jahreshälfte 1945 für mich eine Zeit der Reife, in der ich meine Kindheit abzustreifen begann. Zunehmend öffneten sich mir Freiräume, in die ich selbstbestimmt hineingehen konnte, die man mir anvertraute, in denen ich eigenverantwortlich handeln musste. Natürlich war ich mir dessen damals nicht bewusst; bewusst wurde mir aber , dass ich mich von unserer Familie langsam löste, bei meinen amerikanischen Freunden jedoch nicht daheim war. Ich stand in einem frischen Wind zwischen beiden und spürte beiden gegenüber eine kindlich bedeutsame Verantwortung. Das war wohl den ernsten Ereignissen jener Jahre geschuldet, wie sie unsere Generation durchlebte und an ihnen reifte, gerade weil sie uns nicht unverletzt zurückließen.
Am tiefsten beeindruckten mich Gespräche mit Donald L. Ford, dessen Gedanken mir einen ersten Einblick in die Ideen der amerikanischen Freiheitsverfassung gaben. Wir waren uns in der Verwaltung oft begegnet, aber ich machte um den hohen Offizier mit dem ernsten, pockennarbigen Gesicht möglichst einen Bogen, ihn, vor dem selbst Linder großen Respekt zeigte und sicher nicht umsonst meistens mit klarem „Yes, Sir!“ antwortete.
Wenn ich mich recht erinnere, war es auch Linder, der mich fragte, ob ich bereit wäre, mit dem Captain und seinen Offizieren einen Gang durch die Old Town of Limburg zu machen und ihnen alles Wichtige zu zeigen. Ich brauche mich nicht zu fürchten, zivil sei Ford sehr umgänglich. Ich bat mir von Linder einen Tag Bedenkzeit aus, weil ich dazu Mutters Zustimmung einholen wollte. Sie wandte nichts dagegen ein, machte mir bei dieser Gelegenheit aber unmissverständlich klar, dass sie wie schon Linder, der selbst mit mir einmal zur Mutter gegangen war, die Männer, unter denen ich doch einen großen Teil meiner Zeit verbrachte, unbedingt kennenlernen wollte, um, wie sie das ausdrückte, sich von ihnen einen Eindruck zu verschaffen.
Das war wohl auch die Absicht Donald L. Fords, der sich selbst und seinen Offizieren einen Eindruck von der Stadt verschaffen wollte, in der sie so lange Zeit lebten und deren Menschen sie zu überwachen hatten, ohne sie doch wirklich kennenlernen zu dürfen. So weit dachte ich damals freilich nicht, fand es aber interessant, dass in der kleinen Gruppe von Offizieren offensichtlich je ein Nachkomme afrikanischer und indianischer Vorfahren war. Dunkelhäutige Personen hatte ich schon öfter gesehen, aber noch nie einen Verwandten Winnetous; das fand ich denn doch sehr spannend. Und diese Männer verkehrten fröhlich und ohne besondere Abstände mit einander.
Ich führte die Gruppe zunächst durch die Gassen der damals noch nicht restaurierten Altstadt, erklärte ihnen die Gassennamen und deren Bedeutung im mittelalterlichen Leben, zeigte ihnen, wie Zimmerleute einst bauten und wie die hier vorherrschenden Fachwerke errichtet wurden und machte sie auch auf die wenigen alten Steinbauten aufmerksam. Hier und da musste ich ihnen ein Hausschild erklären und dessen einstige Ordungsfunktion, und sie erzählten mir vom amerikanischen System der nach Buchstaben und Zahlen benannten Häuserblöcke und wie man sich in ihm orientiere. Wir schauten in den Schlosshof und gingen um den Dom herum, und blickten vom Domfriedhof auf die gesprengten Brücken, auf die Alte Lahnbrücke, 600 Jahre alt und jetzt in der Mitte zerstört, und auf die kaum 10 Jahre alte Autobahnbrücke, deren mittlere Pfeiler samt Fahrbahn den Fluss wie ein aufgeschütteter Damm sperrten und zu einem bis an den Rand Eschhofens reichenden See aufstauten. Dass die ältere Brücke 600 Jahre alt sein sollte und der Dom 1935 sein 700-jähriges Jubiläum feierte, rief bei meinen Zuhörern ungläubiges Erstaunen hervor, dessen Diskussion einen der Leutnants, der den schönen Namen Westmoorland trug, zu dem mir unvergesslichen Ausspruch führte: Und in den Staaten ist ein 100 oder 150 Jahre altes Gebäude quiet a landmark - schlicht ein Wahrzeichen. Wir gingen natürlich auch in den Dom hinein, damals noch in der Fassung der Restauration für das Jubiläum, in die durch ihre dunkle Stimmung beeindruckende Kirche, und erzählte, dass ich hier zur Ersten hl. Kommunion und zur Firmung durch unseren Bischof geführt worden sei.
Damals ging man im Dom noch über die Grabplatten der dort begrabenen Geistlichen und ersten Bischöfe, was die Offiziere sehr zum Nachdenken brachte. Bevor wir auseinandergingen, dessen erinnere ich mich klar und deutlich, sagte ich Ford und seinen Offizieren, Deutschland sei ein Land mit einer sehr langen Geschichte, und erzählte ihnen, ich hätte von meinem Großvater ein Album mit Zigarettenbildern, in dem aus der Vergangenheit unseres Landes viele schöne, viele traurige, viele schlimme und viele gute Geschichten dargestellt seien. Man dürfe unser Land nicht nur nach den beiden Weltkriegen verurteilen und verdammen. Darauf sagte der Captain, der sich bis dahin sehr zurückgehalten hatte: „Das ist wahr. Der Großvater meiner Frau stammte aus Deutschland, und in den Staaten hatten Deutsche bis zuletzt einen sehr guten Namen.“
 V
 Wohl um mir eine Freude zu machen, fragte mich Donald L. Ford einige Tage später, ob ich Lust hätte, an einem der nächsten Nachmittage mit ihm nach Wiesbaden zu fahren; er habe dort dienstlich zu tun, aber nur kurz, und da könnten wir uns zusammen die Stadt ansehen. Als ich davon Mutter erzählte, erinnerte sie mich daran, dass sie schon früher darauf gedrängt habe, die Leute kennenzulernen, mit denen ich da zu tun hätte. Darüber schmunzelte Ford erstaunt, war aber sofort einverstanden, ich solle ihn vorher abholen und zu meiner Mutter führen. In der Walderdorff-Straße stieg er dann mit mir in einen schicken weißen Mercedes V2 mit Ledersesseln, und in dem fuhren wir zunächst zu uns, in dem Hinterhof, nicht wenig Aufsehen erregend, und Ford stieg mit mir aus und die Treppe hinauf in Omas Wohnung.UNd der höfliche Mann bestand Mutters kritische Prüfung spielend, und wir durften zusammen nach Wiesbaden fahren.
Ford war ursprünglich Agent einer Versicherung gewesen und hatte dann eine Militärakademie besucht. Wie sich herausstellte, war seine Fahrt nach Wiesbaden mehr eine Gelegenheit, das den Offizieren irgendwie in die Finger gefallene Auto einmal richtig auszufahren, und diese Gelegenheit nutzte Ford spitzbübisch sich freuend weidlich aus. Einerseits imponierte mir die Geschwindigkeit, mit der er über die leere Hünerstraße brauste, natürlich sehr, andererseits kämpfte ich auf der kurvenreichen Strecke mit meinen Innereien, da ich ja Autofahren absolut nicht vertrug. Und als ich mich in diesen Kampf unterliegend fürchterlich übergeben und schämen musste, zeigte Ford wirkliches Verständnis und fuhr mich den Rest der Strecke sanft wie ein Lämmchen.
 Als Ford mit seinem Bataillon Limburg verließ, vereinbarten wir, in Briefverbindung zu bleiben. Diese überdauerte Jahre, seine Rückkehr in den ursprünglichen Beruf und seine erneute Einberufung in den Militärdienst, der ihn in den Koreakrieg führte. Nach dessen Ende ergab sich ihm die Möglichkeit, im Spätherbst 1953 seinen Heimflug in Frankfurt zu unterbrechen. Dort lieh er sich einen Wagen und fuhr nach Limburg, um mich zu überraschen. In der Frankfurter Straße traf er auf meine Tante, die ihn in die Goethestraße schickte, wo Mutter ihm mühsam beibringen musste, ich sei zu einem Pädagogischen Praktikum in Hangenmeilingen im Landschulheim Vogt. Das war nur schwer zu finden, aber als der amerikanische Major dort plötzlich auftauchte und nach mir fragte, hatte man noch gfrößere Not, ihm die Lage des Ackers ‘Auf dem Steinchen’ zu erklären, wo ich mit einer Gruppe älterer Schüler bei der Kartoffelernte war; und nicht schlecht erstaunte, als am Ackerrand unerwartet einem Auto ein amerikanischer Offizier entstieg.
War das ein Wiedersehen! Mein Gast hatte nur einige Stunden Zeit, die er nutzte, mir einige Informationen zu geben die er Briefen nicht anvertrauen wollte. Ford war sichtlich gealtert, der Koreakrieg hatte ihn zudem tief geprägt. Und er, der in seiner Stellung in einem der leitenden Stäbe der Army mehr erfahren hatte, als allgemein bekannt werden durfte, schätzte damals die politische Lage zwischen Ost und West sehr kritisch ein. Das bewog ihn, mich zu beschwören, um Gottes Willen nach den USA  überzusiedeln. Ihm sei bekannt, dass in Rheinbergen wie der Loreley in Felsenkammern große Sprengsätze lagerten, die zur Detonation gebracht, den Rhein aufstauen und damit nicht überquerbar machen würden. Dem werde ein gnadenloser Atomkrieg folgen, der besonders das jetzige Westdeutschland auslöschen und atomar so verwüsten werde, dass dies zur Eindämmung der konventionell überlegenen Ostmächte führe. Wenn es erst so weit wäre, gäbe es für mich keine Chance zu entkommen. Ich solle nach Amerika kommen; für einen Lehrer gäbe es dort immer Arbeit. Er wolle  für mich bürgen.
 Etwa 6 Jahre später kam mein älterer Freund noch einmal nach Deutschland. Er hatte seiner Frau versprochen, dass sie einmal in das Land ihrer Vorfahren fliegen dürfe - und dazu augenzwinkernd gesagt, er müsse auch noch einmal nach mir sehen. Ford war inzwischen wieder Versicherungsagent gewesen, hatte - als leidenschaftlicher Pall Mall Raucher - einen Herzinfarkt erlitten, und wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Das Ehepaar Ford flog getrennt; mein Freund traute der Flugsicherheit nicht so recht. Während seine Frau direkt nach Württemberg in die Heimat ihrer Voreltern flog, war er schon zwei Tage früher nach Frankfurt gekommen, wo wir ihn am Flughafen ausrufen ließen und man ihm einen genauen Wegeplan nach Oberweyer überreichte, wo ich damals Lehrer war und mit Frau und unseren ersten 3 Kindern im Schulhaus wohnte. Unser Ältester, Johannes, damals 4 Jahre alt und seinem Vater als Kind nicht unähnlich, konnte die Ankunft des Mr. Ford aus Amerika kaum erwarten und bezog deshalb am Dorfeingang Wachposten, und als der dann wirklich nach Oberweyer kam, sah er  den Jungen am Wegrand und wusste, dass er richtig angekommen war.
 Erneut versuchte Donald uns zu überzeugen, dass wir in die Staaten auswandern müssten, so kritisch triebe der Kalte Krieg zwischen Ost und West auf immer wahnsinnigere Höhepunkte zu. Und Donald wusste, dass das Lieblingsspiel seiner Landsleute das Pokern war, und befürchtete, da der Osten im Schachspiel den Amerikanern weit überlegen war; dass der nächste geschickte Schachzug oder die nächste Pokerrunde zur Zündung des nuklearen Supergaus führen werde. Die im folgenden Jahr heraufbeschworene Kubakrise bestätigte dann Donalds Warnungen, machte aber auch aller Welt klar, wohin eine solche Politik führt.
 Er hat das Aufatmen der Menschheit unter der folgenden Entspannungspolitik leider nicht mehr erleben dürfen. Als wir uns am nächsten Tag trennen mussten, taten wir es im glücklichen Bewusstsein, uns noch einmal gesehen und umarmt zu haben. Seine Frau teilte uns einige Monate später mit, dass Donald einen zweiten Herzinfarkt nicht überlebte, und schrieb noch dazu, sie sei so dankbar, dass er mit ihr die wundervolle Reise nach Deutschland unternommen habe.
 .
 8 Bewegte Jugendzeit und das Wunder der Jugendbewegung
 I
 Unter den denkbar bescheidensten Umständen begann im Dezember1945 der Schulbetrieb wieder. Das Schulgebäude am Schafsberg hatte den Reichsuntergang überstanden, das hieß, es stand noch am alten Platz. Und man versuchte, so zu tun, als habe sich nichts verändert. Denn auch das Lehrerkollegium kam,  wenn auch ziemlich gerupft, an den alten Platz, und tat ein bisschen so, als hätte es nur etwas verlängerte Ferien gegeben, was sich für uns darin zeigte, dass man uns in Klassen einteilte, die nun, nach einem leider fast ganz versäumten Schuljahr mit etwas mehr Eigeninitiative im Stoff des nächsten Schuljahres fortschreiten könnten. Hatte die Quarta der Strudel der Kriegsereignisse zerfetzt, war nun der Stoff der zweiten Hälfte der Untertertia angesagt,
 Für frische Luft sorgten Fenster ohne Scheiben, den bekannten Schlaf bei langweiligem Unterricht verhinderten knurrende Mägen, fehlende Kohlen hielten die Betriebskosten extrem niedrig, und ungemein hohe Schülerzahlen in allen Klassen erlaubten einen rationellen Einsatz der Lehrkörper.
 Uns Schülern wurden die wahren Ursachen der Katastrophe möglichst verschleiert; niemand wagte, unsere leider nicht einmaligen 'Erfahrungen am eigenen Leib' zum Thema zu machen und nach Ursachen und Folgen, nach Freund- und Feindbildern und ihren Auswirkungen, nach der Bedeutung von Krieg und Frieden für das Menschenleben zu fragen. Auf die Idee, Kinder und Jugendliche bewusst auf ausgleichende, friedliche, menschenfreundliche Verhaltensweisen hin zu erziehen, nicht nur um fortan solch schreckliche Katastrophen zu vermeiden, schworen zunächst nur einzelne Erzieher. Man hatte mit der Gegenwartsbewältigung zu viel zu tun, um ernsthaft eine Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, und viele glaubten, wenn es ihnen nur gelänge, für sich irgendwo einen zivilen Rock zu ergattern, und dagegen ihre blutbefleckte Uniform einzutauschen. so wäre damit ihre mörderische Vergangenheit ausgelöscht. Kaum einer bekannte sich verantwortlich und schuldig, alle hatten sie nur Befehle ausführen müssen, und waren nun enttäuscht und begegneten allfälligen Reformplänen mit der Nachkriegsparole : Ohne mich !
 II
 Ich selbst durchlebte die nächsten Jahre bis zur Währungsreform, in diesem Jahr wurde ich fünfzehn, von ständigem Hunger begleitet; mein drei Jahre jüngerer Bruder Günter und ich waren immerzu auf der Suche nach Essbarem, und unsere gute Mutter hatte dreimal täglich das Wunder zu vollbringen, die unergründlichen Tiefen unserer Mägen auszufüllen. Das fiel ihr umso schwerer, als ihr, die nicht nur uns mit so vielen wunderbaren Eigenschaften und Fähigkeiten zu begeistern wusste, die in dieser Situation unabdingbar prioritären Künste ganz und gar abgingen: Organisieren und Kochen.
 Alle anderen hatten angeblich auch nichts zu essen, sagten sie wenigstens; aber ich habe auf unserem Schulhof außer dem eigenen Schulbrot kein zweites gesehen, aus dem zwischen zwei dünnen, aufgeweichten Schnitten Kommissbrot ein kläglicher Rest ungesüßten Apfelkompotts tropfte. Günter und ich müssen den Eindrück zweier abgenagerter junger Wölfe gemacht haben, denn sobald sich das Ausland darauf besann, dass man in Deutschland eben den untauglichen Versuch startete, hungernde Kinderscharen vom Wohlgeschmack der Demokratie zu überzeugen.
 Ihr Hauptmittel war eine tägliche Schulspeisung, d. h. alle Schulkinder und Jugendlichen erhielten an jedem Schultag eine sättigende Mahlzeit, für die sie nur wenige Groschen zahlen mussten, um die Zubereitungskosten vor Ort zu decken. Die nötigen Lebensmittel spendeten Wohltätigkeitsorganisationen der Siegermächte des Westens, jeweils für die ihnen unterstehenden Besatzungszonen. Organisationen wie CARE und die der Quäker erwarben sich und ihrer Gebernation unvergessene Sympathien und Verdienste. Unsere Nachkriegsgeneration hatte es auch aus den hierbei gemachten Erfahrungen heraus besonders leicht, zu den westlichen Nachbarn, zu den Engländern und den Franzosen ein vertrauensvolles Nachbarschafts-, ja Freundschaftsverhältnis zu entwickeln.
 Die Schulspeisung bot an jedem Tag eine wechselnde Mahlzeit; mal waren das Milchspeisen, mal Erbsen- oder Bohnensuppe; mal ein Brötchen mit Wurst und Kakao dazu, mal besonders beliebt eine kleine Packung Kekse und gelegentlich ein Reihweck mit einem Riegel Schokolade. Wir Hatten ein jeder unser blechernes Kochgeschirr und unseren Löffel im Klassenschrank, stellten uns klassenweise in einer Schlange an und erhielten zunächst von älteren Schülern unsere Zuteilung, in späteren Jahren halfen wir selbst bei der Austeilung.
 Schmächtige und offensichtlich an Unterernährung Leidende erhielten in der zweiten großen Pause aus den überreichlich gelieferten Zuteilungen einen Nachschlag, ich als Kleinster und Schmächtigster zuerst. In manchen Umständen dürfen Letzte auch mal Erste sein und deren Vorrechte genießen.
 III
 Unsere Mutter hat immer wieder erzählt, wie hilfreich ihr diese schultägliche warme Mahlzeit im Kampf um eine vernünftige und gesunde Ernährung ihrer beiden Jungen im Wachstumsalter war, denn sie sah außer der mageren Versorgung auf Lebensmittelkarten fast gar keine Möglichkeiten zusätzlich etwas Nahrhaftes zu ergattern. Natürlich versuchten wir unser Glück, nach dem Abernten der Felder zwischen den Stoppeln Getreideähren aufzulesen und noch ein paar Kartoffeln zu finden, die den Augen der hinter dem Pflug herlesenden Bauersleute entgangen waren. Natürlich gingen wir nach windigen Nächten unter den Obstbäumen an den Straß n und Feldwegen Äpfel und Birnen und Zwetschgen aufzuheben, aus denen Mutter dann Kompott kochte, meist sehr saueren, weil es keinen Zucker gab. Natürlich gingen wir auch dann und wann in das benachbarte Bauerndorf Linter, um eine Kleinigkeit Butter oder winzige Landwirtschaft Zwetschgenkraut zu erstehen, dann und wann sogar ein Ei, denn es lebte dort die eine oder andere mitleidige Seele, die die freundliche, gut aussehende junge Frau nicht von der Tür wiesen. Außerdem wusste man in Linter, dass wir mit Reusche Anna verwandt waren, wenn auch entfernt über ihren Vater, der ein Halbbruder meiner Oma Margarethe war.
 Diese Tante Anna war uns eine große Hilfe, denn sie fuhr in einem Leiterwagen mit großen Milchkannen in unserem Wohnviertel die Milch aus. Jeden Tag brachte sie uns zwei Jungen einen Schoppen Vollmilch, da uns jedem ein Viertelliter nach den Lebensmittelkarten zustand, und spendierte uns dazu einen Liter Magermilch, die zwar Mangelware war, jedoch nicht rationiert. Manchmal hatte sie auch Buttermilch für uns, die Gute. Sie selbst hatte ein hartes Schicksal; ihr Mann, Onkel Heinrich, war gehbehindert und nur beschränkt arbeitsfähig, und ihr ältester Sohn Helmut fiel schon in den ersten Kriegsjahren im Osten. Neben den paar Pfennigen, die ihr der Milchhandel einbrachte, hatten sie eine winzige Landwirtschaft und Onkel Heinrich etwas Rente.
 Ich mochte die beiden gerne, und besuchte sie manches Mal auf den ausgedehnten Spaziergängen, wie ich sie als Jugendlicher und Student regelmäßig unternahm, als sie ihr Milchgeschäft schon lange aufgegeben hatten. Vor einigen Jahren fand ich eine Bildpostkarte, auf der Tante Anna neben einem von einem Pferd gezogenen Kastenwagen auf der Schiede nicht weit von der einstigen Limburger Bank am Bahnhof zu sehen ist. Die Karte stammte aus den Zwanziger Jahren, in denen es ihnen wohl besser gegangen sein muss als später, als die Tante den großen Leiterwagen mit den schweren Kannen die steilen Blumenröder und Galmer-Straßen hinaufziehen musste.
 Ich greife zeitlich weit voraus, wenn ich schon hier das traurige Verlöschen dieser Familie erwähne. Nach dem Tode Helmuts, der mir in seiner hellblauen Fliegeruniform größte Bewunderung abgenötigt hatte, war sein jüngerer Bruder Werner der ganze Stolz und die einzige Hoffnung beider Eltern. Er sah prächtig aus, war ein guter Sportler und ein überaus fröhlicher Junge. Mir imponierten seine Erfolge als Fußballer umso mehr, als mir solche Fähigkeiten gänzlich abgingen. Da er auch ein guter Schüler war, der etwas für seine Fortbildung tat, bekam er nach dem Krieg eine Lehrstelle bei der Stadtverwaltung Limburg. Hier glänzte er nicht nur durch seine Leistungen, sondern fand auch viel Anklang als Kollege und genoss als aufgeschlossener und überaus freundlicher Mitarbeiter allseits hohes Ansehen. Als er heiratete, das erste Mal, dass ich als Gast zu einer solchen Familienfeier eingeladen wurde, waren er und seine Braut in aller Augen das schönste und glücklichste Paar, das das Dorf Linter  seit langen Jahren gesehen hatte. Zu dieser Hochschätzung hatten nicht zuletzt Werners Erfolge auf dem Fußballplatz und in der Fastnacht beigetragen. Er war nämlich als fähiger Organisator für seine Vereinskollegen und als Büttenredner für seine Zuhörerschaft nicht zu überbieten.
 Dieses von allen beneidete Glückskind nahm noch den begeisterten Beifall seiner Zuhörerschaft freudig entgegen, dann ging er aus der Bütt und direkt von der Veranstaltung weg nach Hause - und setzte seinem jungen Leben unvermittelt ein jähes Ende. Alle Feiern wurden abgesagt, die Arbeitskollegen bereiteten ihm eine bewegende Abschiedsfeier, aber niemand, auch seine Frau nicht, niemand verstand seinen Schritt. Über die Kinderlosigkeit seiner Ehe wurde geredet, aber verständlich wurde sein letzter Schritt wohl von niemandem.
 IV
 Doch zurück zur Nachkriegsschulzeit : In unsere Klasse auf dem Gymnasium kamen nach und nach zum alterhaltenen Stamm eine ganze Reihe neuer Schüler, mehrere aus den ost- und mitteldeutschen Gebieten Ausgesiedelte, einige aus der einstigen NS-Eliteschule Oranienstein, der so genannten NapolA im Diezer Hain, und im Laufe der Oberstufe auch einige Schüler aus dem Klostergymnasium der Pallottiner, die mit uns ein staatliches Abitur anstrebten, das die Klosterschule nicht bieten konnte. Alle die letzten Jahre war und blieb  ich der Jüngste, und einer dieser letztgenannten Gruppe war genau zehn Jahre älter als ich und der Älteste unserer Klasse, ein würdiger Kriegsteilnehmer, der für Jungenstreiche, wie ich sie so sehr liebte, keinerlei Verständnis aufbringen konnte.
 Wenn auch unter anderen Bedingungen, so hatte ich doch auch in den beiden Tertia–Jahren erneut einen schweren Stand, was sich in den beiden folgenden Sekunda-Jahren jedoch abmilderte und in den beiden letzten Jahren unter den Primanern fast ins Gegenteil verkehrte. Zunächst waren mir die wohlgenährten und durchtrainierten Sportskanonen aus der NapolA und ihnen Ebenbürtige Fahrschüler aus dem ländlichen Umkreis vor allem im Sport überlegen und ich ihnen bei allen Spielen eine Quelle notorischen Versagens. Als ich mich aber vor den Hürden, die das deutsche Bildungssystem traditionell vor guten Noten und brauchbaren Schulabschlüssen aufbaut, als hilfreicher Steigbügel erwies, nämlich als ziemlich zuverlässige Quelle  abfragbaren Wissens, drehte sich der Wind, der mir bislang immerzu ins Gesicht geblasen hatte. Nicht nur in der Bibel werden Letzte schließlich zu Ersten, sondern auch im Bildungswesen, in dem die Ersten oft dadurch ihr angestammtes Renommee stabilisieren, dass sie in höchst großzügiger Weise sich herablassend Errungenschaften der Kleinen zu Eigen machen woran sie sich später nicht mehr zu erinnern pflegen.
 V
 Einige Zeit vorher - die amerikanische Belagerung unserer Wohnung hatte inzwischen geendet, und wir waren wieder im Galmerviertel heimisch geworden - überkam mich wohl als Auswirkung pubertärer Unruhe immer wieder eine unbändige Wanderlust. Ich nutzte jede freie Minute mal eben hierhin oder dorthin zu gehen, mal eben, allein oder mit dem einen oder dem anderen Kameraden die Stadt zu umrunden, über den Schafsberg. oder den Greifenberg, bis in den Diezer Hain oder an den Linterer Weiher.
 Zeitweise lockten auch Ziele, wie ich sie mit Kameraden auf dem Schulhof verabredete, die Ruinenreste der im März 1945 gesprengten Autobahnbrücke, die Kirchtürme der Bischofsstadt, die aus vorindustrieller Zeit verbliebenen Stollen der Blei- und Silbergewinnung im Greifenberg, unwiderstehlich  mit ihren dort lauernden Gefahren und Geheimnissen. Angst machte uns natürlich zu schaffen, hatte sich doch ein Alterskamerad dadurch um zwei oder drei Finger einer Hand gebracht, dass er - auf einem Schraubstock einer Schreinerei sitzend - ein gefundenes und unter sich eingespanntes Explosivgeschoss mittels Hammer und Nagel zündete, worauf ihm prompt Hammer und Nagel und Geschoss und dessen Hülse um die Ohren flogen. Das hätte er sich doch denken können, sagten wir uns nachher, hatten ihm aber tags zuvor auf dem Schulhof nur geraten, vor allem den Schraubstock fest anzuziehen, sonst ...
 So etwas konnte uns natürlich nicht passieren, meinem damaligen Kumpel Erich nicht, und mir auch nicht. Wir würden uns auch nicht auf Scheinerschraubstöcke setzen, sondern in freier Luft über der Lahn bewegen - prahlten wir lauthals auf dem Schulhof. Klappern gehörte zu unserem Handwerk, und Risiko erhöhte die Aktienpreise : In freier Luft über der Lahn, wiederholte ich nickend, ohne recht zu wissen, was Erich damit gemeint hatte.
 Am frühen Nachmittag trafen wir uns und gingen den Hammerberg hinauf zur Autobahn. Die lag still da, kein Auto, kein Mensch war zu sehen. Wir liefen mitten auf der breiten Betonpiste hin und her, die ganze Welt gehörte vor allem uns. na ja , nur schien uns das so. Denn kaum 100 m vor uns brach die breite Brücke in die weite Welt ab - durch die Sprengung der mittleren Pfeiler 60 m in die Tiefe abgestürzt. Neugierig gingen wir bis zum Rand der Straßenfläche und blickten mit Schauder im Rücken in die Tiefe. Erich wollte sich an deren Rand setzen, und die Beine herabbaumeln lassen. Das war mir den doch zu gewagt, mir, dem vor Höhenangst nicht nur die Beine zitterten. Vor uns das Geländer - dahinter das großartige Panorama vom Greifenberg über Schloss und Dom und Lahn und Brückenvorstadt hinüber zur Westerwaldseite . Aber dafür hatten wir jetzt keinen Blick, und ganz verdattert reichte ich Erich meine Rechte zur Absicherung, als Erich das verlangte und elegant auf das etwa 25 cm breite Geländer stieg. Ich reichte kaum hoch genug hinauf, und ging - ihn krampfhaft festhaltend - schweigend neben ihm her soweit auf das Brückenende zu, bis es auch Erich zu viel wurde, und er vom Geländer auf die Brücke zurücksprang : “ Siehst du wohl “, sagte er lachend, “so was macht unsereins doch mit Leichtigkeit”. Natürlich bot er mir gleichfalls seine Hilfe an und ermunterte mich kurz, auch so einen Spaziergang in luftiger Höhe zu versuchen, aber er bestand nicht auf seinem Vorschlag, als ich den Kopf schüttelte und entschieden den Heimweg antrat. Da wurde mir klar, dass er selbst das waghalsige Kunststück auch kein zweites Mal unternehmen würde. Weder er noch ich , keiner hat sich je dieser verantwortungslosen Heldentat gerühmt, so gescheit waren wir immerhin.
 X (Einige Tagebuchnotizen - nach Datum geordnet und einzufügen)

 XX (Geschrieben 2009)

 I
 Gefährliche Operationen
 Kurz vor Weihnachten erhielt ich Bescheid, dass sich mein zur Reparatur eingesandter Füllfederhalter nicht mehr wiederherstellen ließe; man wolle mir aber, wohl weil ich mit dem alten Schreibgerät so viele Jahrzehnte mit stetig wachsender Anhänglichkeit geschrieben hatte, insoweit entgegenkommen, als man bereit sei, mir das gleiche Modell mit gleicher Feder in neuer Farbfassung zur Hälfte des gegenwärtigen Verkauifspreises zu liefern.
 Nun, so ein Angebot konnte ich nur ergreifen, und weil mir inzwischen neben dem alten auch das neue gute Stück zur Hand ist, will ich ausprobieren, was es an Schreibqualitäten hergibt, wie es in der Hand liegt, ob sich seine Feder dem Papier anschmiegt, wie es sich bei schwierigen Textstellen verhält, wenn der Schriftfluss stockt. Wichtig ist auch, wenn mir schwere Gedanken und trübe Stimmungen in die Feder fließen, ob es dann die nötige Schriftschärfe beibehält oder meine Schriftzüge in breiiger Breite zerfließen lässt. Etwa in folgendem Text, der geneigte Leser mag entscheiden :
 —
 Es geht um eine - wie der berühmte Professor mir auf meine Frage, seinen Kopf ein wenig hin-undher wiegend sagte - mittelschwere Operation, was mich an jenem Dienstagabend iim August vergangenen Jahres nicht eben beruhigte. Auf meinen Gängen durch die Flure der Urologischen Klinik hatte ich im Foyer ein großes Plakat entdeckt, auf dem wissenschaftliches Kolloquium angekündigt war, anlässlich dessen die Grenzen experimenteller und instrumentativer urologischer Operationen dargestellt und diskutiert werden sollten. Namen bedeutender Ärzte las ich auf dem Plakat, jeweils Themen zugeordnet, die geeignet waren, jedem Patienten schweres Gruseln über den Rücken laufen zulassen, und mir besonders, weil der Name des Kolloquiumleiters eben der des vor mir stehenden Herrn im weißen Kittel war, dessen leises Kopfwiegen das Wort mittelschwer begleitete: Mittelschwer für ihn - was mochte das für mich bedeuten ?
 War dieser denn seiner Sache wirklich so sicher, wie er hier auftrat? Warum stellte er in dem folgenden Gespräch am Vorabend der für den folgenden Morgen geplanten OP diese für einen Tag zurück, um eine zusätzliche Funktionsprüfung meiner Nebennierenrinden mit Radionukliden vornehmen zu lassen?
 Was ich nicht wissen konnte, Professor Th. hatte einen Brief meines Limburger Nephrologen Dr. Walter erhalten, der ihm einige neuere Laborwerte mittelte, die eine Entfernung des kleinen Tumors an meiner rechten Nebenniere nötig machten, gleichzeitig aber ein die Nebeniere möglichst schonendes Vorgehen wegen hormoneller Folgen angeraten sein ließen. Das veranlasste Professor Thüroff zu der zusätzlichen Untersuchung und brachte mir eine gar nicht unwillkommene Verzögerung. Und die gab mir einen Tag, den ich zu weiterem Überdenken meiner Lage nutzen konnte.
 Die radiologische Untersuchung am nächsten Tag war nicht so unangenehm, wie ich das befürchtet hatte; im Gegenteil gab sie meinem doch ziemlich geschwächten Vertrauen zur eigenen Gesundheit etwas Auftrieb. Die medizinisch-technische Assistentin, die die Geräte bediente, ließ sich mit ungläubigem Blick auf die von mir vorliegenden Daten mein Geburtsdatum bestätigen, dass sie verdächtigte, statt 1933 wohl 1943 lauten zu müssen. So gestärkt wunderten mich die insgesamt normal guten Ergebnisse der Tests denn auch nicht. Und bei der Abendvisite erklärte mir der Professor, da Nieren und Nebennieren ordentlich arbeiteten, wolle er mir am nächsten Morgen rechts den Tumor und die wuchernde Nebenniere ganz entfernen; falls nämlich später an einer vernarbten Nebenniere eine erneute OP nötig werde, mache das sonst erhebliche Schwierigkeiten. Die linke Nebenniere werde das hormonelle Gleichgewicht problemlos aufrecht erhalten.
 Vertrauensvoll unternahm ich an diesem Abend noch einen ausgedehnten Spaziergang; - und ging dem folgenden Tag zuversichtlich entgegen.